Dekolonialer Stadtrundgang

12.04.2023, 16-18 Uhr, Treffpunkt: Ecke Augustinerstraße / Am Hügel

Zum Tag der Provenienzforschung am 12. April starten wir wieder durch mit unseren dekolonialen Stadtrundgängen. Wir treffen uns am 12. April um 16 Uhr an der Straßenecke Augustinerstraße / Am Hügel zum dekolonialen Stadtrundgang. Zusammen erkunden wir die (K)Erben des Kolonialismus in Erfurt. Davon gibt es überraschend viele.

Kommt vorbei und bringt eure Freund*innen mit! Wir freuen uns auf euch!


Wir bleiben dabei: Das Nettelbeckufer muss umbenannt werden!


Wie zu befürchten war, hat der Erfurter Stadtrat heute mit den Stimmen von SPD, CDU und AfD beschlossen, dass das Nettelbeckufer nicht umbenannt werden soll. Der ursprüngliche AfD-Antrag, der noch im Dezember 2020 vom Stadtrat abgelehnt worden war, wird dadurch mehrheitsfähig gemacht. Wenn SPD und CDU jetzt behaupten, sie würden keine AfD-Politik betreiben, ist das scheinheilig. Nettelbeck bleibt als Namensgeber erhalten. Der Unterschied ist lediglich, dass noch ein unbewohnter Abschnitt einer anderen Straße nach Gert Schramm benannt werden soll.

Für Erfurt ist dieser Beschluss eine Schande. Nicht nur wird die AfD weiter normalisiert, es wird auch das Signal ausgesandt, dass kein ernsthaftes Interesse an einer Aufarbeitung des kolonialen Erbes besteht. Stattdessen hören wir leere Rhetorik, die zivilgesellschaftliches Engagement und antirassistische Anliegen missachtet. Für die Zukunft lässt das nichts Gutes erwarten: Wenn die Landeshauptstadt es nicht schafft, einen Versklavungsoffizier, Koloniallobbyisten und Nationalisten zu entehren, wird sie auch an den viel größeren Veränderungsprozessen scheitern, die in den nächsten Jahren auf sie zukommen.

Wir werden uns weiterhin dafür einsetzen, dass das Nettelbeckufer umbenannt wird und Erfurt eine lebenswerte Stadt für ALLE seine Bürger:innen ist, und möchten emanzipatorische Prozesse insbesondere von marginalisierten Gruppen unterstützen. Wer wie SPD, CDU und AfD glaubt, eine gesellschaftliche Debatte könne per Stadtratsbeschluss beendet werden, leidet unter Realitätsverlust. Wir leben in einer postmigrantischen Gesellschaft, in der die Aufarbeitung von Deutschlands kolonialem Erbe in vollem Gang ist. Gemeinsam mit dem bundesweiten Decolonize-Netzwerk und der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland werden wir auch in Zukunft für eine progressive Erinnerungskultur eintreten.

Wir danken allen Erfurter:innen und auswärtigen Menschen, die uns bis zu diesem Punkt begleitet haben, für die Unterstützung – und freuen uns auf die weitere Zusammenarbeit! Wir schätzen uns glücklich, dass unsere Arbeit zu drei Umbenennungen in anderen Städten – Berlin, Dortmund und Eberswalde – beigetragen hat. Weitere werden folgen. Das Gute an der Demokratie ist, dass falsche Entscheidungen auch wieder rückgängig gemacht werden können, wie nicht zuletzt die Wahl eines Karnevalsvereinsvorsitzenden zum Ministerpräsidenten gezeigt hat.


Nein zur OB-Beschlussvorlage zum Nettelbeckufer – Für einen Dialog auf Augenhöhe!

Gemeinsames Statement der Initiativen Decolonize Erfurt & ISD Thüringen


Diesen Mittwoch, den 8.3.2023, wird der Erfurter Stadtrat über eine Beschlussvorlage zum Nettelbeckufer abstimmen, die Oberbürgermeister Andreas Bausewein (SPD) eingereicht hat. Diese besteht im Wesentlichen aus vier Punkten: 1) Der vom Stadtrat beschlossene Runde Tisch zum Nettelbeckufer wird offiziell beerdigt. 2) Das Nettelbeckufer wird nicht umbenannt. 3) Die Karlsstraße, die an das Nettelbeckufer angrenzt, wird in dem Teil, in dem niemand wohnt, nach Gert Schramm benannt. 4) An der Karlsstraße soll eine „Gedenktafel“ errichtet werden, „die sowohl die Biographien von Gert Schramm als auch von Joachim Nettelbeck darstellt.“

Besonders inakzeptabel an der Vorlage ist Punkt 2. Hier soll beschlossen werden, dass eine Umbenennung nicht stattfindet, obwohl das aktuell gar nicht zur Abstimmung steht. Ein solcher Antrag lag dem Stadtrat zuletzt im Dezember 2020 vor, eingebracht von der AfD. Damals wurde er noch mehrheitlich abgelehnt. Nun setzt ein SPD-Oberbürgermeister die AfD-Forderung wieder auf die Tagesordnung.
Unangemessen wirkt die Vorlage des Oberbürgermeisters auch, da sie sich gegen einen Stadtratsbeschluss wendet, der die Durchführung eines Runden Tisches zum Nettelbeckufer als Zwischenziel formulierte, übrigens auch mit den Stimmen der Bausewein-Partei. So zielt Punkt 1 der Beschlussvorlage einzig und allein auf die Aufhebung des Stadtratsbeschlusses zur Einrichtung eines Runden Tisches. Nachdem die Stadtverwaltung sich zunächst über ein Jahr um die Organisation des Runden Tisches bemühte und auch ein Vorbereitungsgespräch einberief, zogen die drei Anwohner:innen, die angeblich für alle anderen am Nettelbeckufer lebenden Menschen sprachen, ihre Bereitschaft zur Teilnahme zurück. Die Stadt stellte daraufhin ihr Handeln bezüglich der Umsetzung des Bürger:innenbeteiligungsformates komplett ein, obwohl es auch weitere Anwohner:innen gibt, die sich gerne beteiligen würden.

Ob die OB-Beschlussvorlage am 8.3.2023 eine Mehrheit im demokratischen Spektrum bekommt, hängt am Ende von den Stimmen der SPD-Fraktion ab. Sollte die Vorlage eine Mehrheit finden, würde damit ein von der Zivilgesellschaft angestoßener Beteiligungsprozess abgewürgt. Mit der Vorlage wendet der OB sich gegen den eigenen Parteibeschluss, dekoloniale und rassismuskritische Initiativen zu unterstützen. Dieses Vorgehen steht beispielhaft für eine unglaubwürdige Kommunalpolitik in Erfurt. Während die CDU und der Oberbürgermeister sich immer bürger:innennah geben, lassen sie, wenn es ernst wird, zivilgesellschaftliches Engagement ins Leere laufen und wollen dies als Kompromiss verkaufen. Unabhängig von unseren Forderungen sollte zivilgesellschaftliches Engagement immer anerkannt werden und nicht mit leeren Versprechen abgespeist und beiseitegeschoben werden.

Die Fraktionen DIE LINKE und Bündnis 90/Die Grünen haben einen Änderungsantrag vorgelegt, der ein Bürger:innenforum vorsieht. Dieses schafft die Möglichkeit, mit wenig Aufwand die begonnene Arbeit der Stadtverwaltung fortzuführen und zu einem tatsächlichen Kompromiss zu finden – der auf einer Aushandlung zwischen den Beteiligten beruht und nicht aufoktroyiert ist.

Wir als Decolonize Erfurt und ISD Thüringen jedenfalls werden uns auch zukünftig für einen Dialog auf Augenhöhe einsetzen. Die Forderung einer Umbenennung des Nettelbeckufers wird unsererseits weiterhin bestehen bleiben. Ein Versklavungsoffizier, Koloniallobbyist und Nationalist wie Nettelbeck hat in Erfurt keine Ehrung verdient. Wir werden mit unserer ehrenamtlichen Arbeit weiterhin zu einem partizipativen Diskurs im Stadtraum beitragen und verweisen auf unser erarbeitetes Informationsmaterial, z.B. die „Zwölf Missverständnisse in der Diskussion zur Umbenennung des Nettelbeckufers.“


Wir halten am Runden Tisch fest!

Am 16.6.2022 fand ein Vorbereitungstreffen für den Runden Tisch über das Erfurter Nettelbeckufer statt, bei dem neben den beiden Moderatoren, dem Vorsitzenden der Straßennamenskommission Dr. Torben Stefani und dem TA-Journalisten Hanno Müller, Decolonize Erfurt, die Initiative Schwarze Menschen in Deutschland und die Bürger*inneninitiative gegen die Umbenennung des Nettelbeckufers vertreten waren. Das Treffen verlief respektvoll und konstruktiv. Es wurden ein Fahrplan für den Runden Tisch und Regeln für den Umgang miteinander festgelegt. Bestehende Irritationen, u.a. dass sich die Umbenennungsgegner*innen von den Befürworter*innen „in die rechte Ecke“ gedrängt sehen, konnten ausgeräumt werden. Auch gab es den letztlich einvernehmlichen Beschluss, über Lösungs- und Kompromissvorschläge am Runden Tisch zu sprechen.

In einem Offenen Brief vom 12.7.2022 hat nun die Bürger*inneninitiative angekündigt, nicht am Runden Tisch teilnehmen zu wollen. Als Gründe werden ausgerechnet die Angst, „in die rechte Ecke“ gestellt zu werden, angeführt sowie der Sachverhalt, dass bei dem Vorbereitungstreffen nicht über Lösungs- und Kompromissvorschläge gesprochen wurde. Wir bedauern diese Ankündigung.

Resultat des angekündigten Rückzugs kann nicht sein, dass der Runde Tisch als demokratisch legitimiertes Beteiligungsformat abgeblasen wird. Laut Stadtratsbeschluss besteht seine Funktion darin, „einen Dialog in Gang zu setzen, in eine differenzierte Auseinandersetzung in einer Atmosphäre des Einander Zuhörens zu kommen und Lösungsvorschläge zu entwickeln.“ Obwohl eine Teilnahme der Bürger*inneninitiative wünschenswert wäre, kann dieser Prozess auch in einer anderen Besetzung erfolgen. Wir halten am Runden Tisch fest. Dazu gehört auch die Bitte an Stadtrat und Stadtverwaltung, der Bürger*inneninitiative die Möglichkeit offenzulassen, sich doch noch am Gespräch zu beteiligen.

Decolonize Erfurt und Initiative Schwarze Menschen in Deutschland
Erfurt, 14.7.2022


„Deutsche, spiegelt Euch daran!“

Eine Lesung zu Joachim Nettelbeck, seiner Verehrung als Nationalheld und der verdrängten Sklavereigeschichte

22.08.2022, 19.30 Uhr, Haus Dacheröden

In der Debatte zur Umbenennung des Erfurter Nettelbeckufers in Gert-Schramm-Ufer war immer wieder, und zuletzt bei einer Veranstaltung im Erfurter Kulturquartier Anfang Mai 2022, zu hören: „Nettelbeck hat doch nur seine Heimatstadt Kolberg verteidigt. Dass er vom deutschen Nationalismus, der ja anfangs durchaus progressiv war, und von den Nazis instrumentalisiert wurde, dafür kann er nun wirklich nichts.“ Wie hat sich Nettelbeck selbst geäußert und wie diejenigen, die ihn zu einem Nationalhelden gemacht haben: z.B. Gneisenau, Paul Heyse, Wilhelm II. oder Nazi-Schriftsteller und DDR-Historiker? In Form einer Lesung lässt die Veranstaltung die historischen Quellen sprechen. Zugleich wird die Behauptung, der deutsche Nationalismus sei anfangs progressiv gewesen, mit dem aktuellen Stand der Nationalismusforschung konfrontiert. Dabei zeigt sich: Nettelbeck schreibt sich in einen monarchistischen Preußen-Nationalismus ein, der schon vor der französischen Revolution und Napoleon xenophob und imperial-expansiv war. Seine Verehrung als Volksheld beruhte bereits im Nationalismus des 19. Jahrhunderts und selbst noch bei den Nazis auf einer Verdrängung seiner Beteiligung am transatlantischen Versklavungshandel, die teils mit denselben Argumenten erfolgte wie heute.

Lesung mit Julia Maronde (Schauspielerin aus Erfurt), Einführung und Kontextualisierung: Dr. Urs Lindner (Universität Erfurt und Decolonize Erfurt)

Die Veranstaltung wird zeitgleich als Facebook-Livestream übertragen. Einfach Decolonize Erfurt folgen und 19.30 Uhr dabei sein!

Eine Veranstaltung von Decolonize Erfurt in Zusammenarbeit mit der Landeszentrale für politische Bildung Thüringen und dem lokalen Aktionsplan gegen Rechtsextremismus der Stadt Erfurt.


Durchhalten mit Nettelbeck: der Nazi-Propagandafilm „Kolberg“

03.05.2022, 19-21 Uhr, KulturQuartier Schauspielhaus

Filmvorführung mit Einführung von Felix Moeller und anschließender Diskussion

Im Frühjahr 1943, als sich die militärische Niederlage Nazideutschlands abzeichnete, rief Propagandaminister Joseph Goebbels im Berliner Sportpalast den „totalen Krieg“ aus. Die Deutschen sollten sämtliche Ressourcen für den „Endsieg“, den als Vernichtungskrieg geführten Griff nach der Weltherrschaft und die von ihnen zu verantwortenden Genozide (Shoah und Porajmos), mobilisieren. Goebbels setzte dabei, wie schon zuvor, auf das Kino. Kurz nach der Sportpalastrede beauftragte er seinen Starregisseur Veit Harlan, der 1940 das antisemitische Machwerk „Jud Süß“ gedreht hatte, mit der Verfilmung eines weiteren historischen Stoffes: der Belagerung der Ostseestadt Kolberg durch Napoleons Truppen im Jahr 1807. Goebbels sah im Kolberg-Mythos eine Inspiration, um den Durchhaltewillen der Deutschen gegenüber den vorrückenden Alliierten zu stärken.

„Kolberg“ wurde der teuerste und aufwändigste Nazi-Propagandafilm überhaupt.

In der Debatte um die Umbenennung des Erfurter Nettelbeckufers in Gert-Schramm-Ufer ist verschiedentlich betont worden, die Nazis hätten Nettelbeck, der bloß seine Heimatstadt verteidigen wollte, für ihre Zwecke instrumentalisiert. Dem steht gegenüber, dass sich Harlans Propagandafilm in eine nationalistische Opfergeschichte einschreibt, die seit 1807 unaufhörlich erzählt wurde und an der Nettelbeck mit seinen 1821-23 veröffentlichten Memoiren selbst noch mitgestrickt hat. Und es war die Nazizeit, in der Nettelbecks Beteiligung an der transatlantischen Sklaverei am entschiedensten verharmlost wurde.

Heute ist „Kolberg“ ein sog. Vorbehaltsfilm, der nur mit einer historischen Einführung und fachkundig begleiteten Diskussion gezeigt werden darf. Die Veranstaltung mit Felix Moeller soll einen Einblick liefern, wie Nettelbeck und der Kolberg-Mythos im Nazikino inszeniert wurden, und Raum bieten, die Frage der Instrumentalisierung zu diskutieren.

Felix Moeller ist promovierter Historiker und Filmemacher. 2008 hat er den Dokumentarfilm „Harlan – im Schatten von Jud Süß“ gedreht, 2014: „Verbotene Filme – das verdrängte Erbe des Nazikinos“, 2021: „Jud Süß 2.0. Vom NS- zum Online-Antisemitismus“, in dem es u.a. um Verschwörungsmythen in der Corona-Pandemie geht.

— Eintritt auf Spendenbasis —

Eine Veranstaltung der Initiative Decolonize Erfurt und der Hochschulgruppe Decolonize Erfurt in Kooperation mit dem Kulturquartier Erfurt, der Landeszentrale für politische Bildung Thüringen, dem Lokalen Aktionsplan gegen Rechtsextremismus der Stadt Erfurt und der Rosa Luxemburg Stiftung Thüringen.

Entsprechend § 6 Abs. 1 VersG sind Personen, die rechtsextremen Parteien oder Organisationen angehören, der rechtsextremen Szene zuzuordnen sind oder bereits in der Vergangenheit durch rassistische, nationalistische, antisemitische oder sonstige menschenverachtende Äußerungen in Erscheinung getreten sind, von der Versammlung ausgeschlossen.
Die Veranstalter behalten sich vor von ihrem Hausrecht Gebrauch zu machen.


Angst vor der Öffentlichkeit? CDU & Co. sorgen für Verwirrung beim Thema Nettelbeckufer

Im April 2021 hat der Erfurter Stadtrat den Beschluss gefasst, einen Runden Tisch einzurichten, an dem Befürworter*innen und Gegner*innen der Umbenennung des Nettelbeckufers in Gert-Schramm-Ufer öffentlich miteinander diskutieren und gemeinsam nach Lösungsmöglichkeiten suchen. Im Herbst 2021 hat die Stadtverwaltung dann die Bürger*innen dazu eingeladen, sich für eine Teilnahme am Runden Tisch zu bewerben. Im März 2022 haben Bündnis 90/Die Grünen eine Anfrage an die Verwaltung gestellt, wann denn der Runde Tisch beginnen soll.

Nun haben die Erfurter CDU und die Fraktionsgemeinschaft von FDP, Freien Wählern und Piraten eine Beschlussvorlage für die nächste Stadtratssitzung eingereicht, mit der sie den Stadtratsbeschluss zum Runden Tisch vorerst aussetzen wollen. Stattdessen soll „ohne weitere Beteiligung der Öffentlichkeit“ ein von der Stadt moderiertes Gespräch zwischen von CDU & Co. handverlesenen Anwohner*innen und den beiden, die Umbenennung befürwortenden Initiativen stattfinden. Als Begründung für den Ausschluss der Öffentlichkeit wird zum einen die Pandemie angeführt: „Auf Grund der Corona-Pandemie war es und wird es auch in naher Zukunft sehr schwierig sein, den Beschluss der Drucksache 0051/21 umzusetzen.“ Zum anderen der Ukraine-Krieg: „Vor dem Hintergrund der grauenvollen Bilder aus dem Kriegsgebiet der Ukraine, erscheint die erneute Aufnahme einer öffentlichen Auseinandersetzung zur Umbenennung des Nettelbeckufers für die nächste Zeit als marginal und würde auch bei der Bevölkerung als politisch völlig deplatziert aufgefasst werden.“

Wir sind sowohl über den Vorschlag als auch über seine Begründung einigermaßen verwundert. Die Stadtverwaltung startet ein Beteiligungsformat, das in seiner Form an den demokratischen Aufbruch von 1989/90 erinnert, so dass sich die Frage stellt: Mit welchem Ziel wollen CDU & Co. die Öffentlichkeit vom Kompromissfindungsprozess ausschließen? Damit würden zum Beispiel auch all die anderen Bürger*innen, die sich für den Runden Tisch beworben haben und für die Umbenennungsidee offen sind, übergangen.

Fast noch abenteuerlicher ist die Begründung für dieses Manöver. Zum einen finden Sitzungen mit weit mehr Teilnehmer*innen zum Beispiel im Stadtrat selbst statt, und das öffentliche Leben geht wieder nahezu ohne Einschränkungen seinen Gang. Der Vorstoß von CDU und FDP verwundert insbesondere deshalb, weil beide Parteien im Landtag gegen weitere Schutzmaßnahmen gestimmt haben. Zum anderen scheinen CDU & Co. auch nicht verstanden zu haben, was in der Ukraine gerade passiert: Putins zunehmend faschistisches Imperium führt einen kolonialen Eroberungskrieg gegen die Ukraine. Und in diesem Zusammenhang soll es „marginal“ und „politisch völlig deplatziert“ sein, sich öffentlich mit der Erfurter Ehrung des Versklavungsoffiziers, Koloniallobbyisten, Nationalisten und Nazi-Propagandahelden Joachim Nettelbeck auseinanderzusetzen? Wenn es Lehren aus dem Ukrainekrieg gibt, dann gehört wohl auch die dazu, wie wichtig eine Beschäftigung mit Faschismus und Kolonialismus für die Gegenwart ist.

Uns ist weiterhin an einer öffentlichen Debatte zur Aufarbeitung des kolonialen Erbes Erfurts gelegen, und zwar gerade auch dort, wo es wie bei Nettelbeck Widerstände gibt. Ebenfalls wichtig ist uns das persönliche Gespräch mit Anwohner*innen des Nettelbeckufers, die eine Umbenennung in Gert-Schramm-Ufer nicht als Gewinn für die Stadt, sondern als Verlust betrachten. Für beide Anliegen hat der Stadtrat im April 2021 die sehr vernünftige Entscheidung getroffen, einen Runden Tisch einzurichten. Wir bitten CDU und FDP/Freie Wähler/Piraten das Fest der Demokratie, das der Runde Tisch darstellt, nicht mit abstrusen Beschlussvorlagen abzuwerten.

Decolonize Erfurt


Aufruf zur Teilnahme am „Runden Tisch Nettelbeckufer“

Im aktuellen Amtsblatt der Stadt Erfurt veröffentlichte das zuständige Amt für Geoinformation, Bodenordnung und Liegenschaften den folgenden Aufruf zur Teilnahme am „Runden Tisch Nettelbeckufer“:

Der Erfurter Stadtrat hat am 28. April 2021 beschlossen, für die Benennung des Nettelbeckufers einen Runden Tisch durchzuführen (Beschluss zur Drucksache Nr. 0051/21 – veröffentlicht im Amtsblatt der Stadt Erfurt am 4. Juni 2021). Der Runde Tisch hat das Ziel, eine gleichberechtigte Teilhabe aller betroffenen und interessierten Bürgerinnen und Bürger zu ermöglichen, um eine von allen Seiten getragene Lösung finden. Er ist paritätisch durch die Anwohnerinnen und Anwohner sowie Vertreterinnen und Vertreter der Initiativen zur Umbenennung des Nettelbeckufers zu besetzen. 

Hintergrund des Themas: Infolge der kolonialen Vergangenheit von Joachim Nettelbeck, dem Namensgeber des Nettelbeckufers, möchten die beiden Initiativen „Decolonize“ und „Initiative Schwarzer Menschen in Deutschland“ die Umbenennung der Straße in „Gert-Schramm-Ufer“ erreichen. Die Debatte um die Umbenennung wirkt momentan stark emotional und konfrontativ. Die Durchführung des Runden Tischs soll die Möglichkeit geben, einen Dialog in Gang zu setzen, in eine differenzierte Auseinandersetzung in einer Atmosphäre des einander Zuhörens zu kommen und Lösungsvorschläge zu entwickeln. Das Ziel ist es, gemeinsam und auf Augenhöhe einen Kompromiss zu erarbeiten, der dann die Grundlage für weitere Entscheidungen des Stadtrats sein soll.

Während die Vertreterinnen und Vertreter der Initiativen der Stadtverwaltung bekannt sind, ist dies für die Anwohnerinnen und Anwohner so nicht der Fall. Aus diesem Grunde möchte die Verwaltung die Anwohnerinnen und Anwohner ebenso wie Gewerbetreibende am Nettelbeckufer dazu aufrufen, sich für den Runden Tisch zu bewerben. Es können sich aus diesem Kreis alle Interessierten – sowohl die Gegner als auch die Befürworter – der Umbenennung melden. Zur entsprechenden Zuordnung werden Sie gebeten, neben Ihren persönlichen Daten auch darzulegen, ob Sie für oder gegen eine Umbenennung des Nettelbeckufers sind. Für eine paritätische Besetzung des Runden Tischs werden Sie dann voraussichtlich gebeten, Sprecher aus Ihrem Kreis zu benennen, die dann unmittelbar im Runden Tisch teilnehmen. Gerne können Sie auch bereits mit diesem Aufruf Ihre Person des Vertrauens mitteilen, die am Runden Tisch als Ihre Interessensvertretung mitwirken soll.

Der Runde Tisch soll in jedem Fall als Präsenzveranstaltung durchgeführt werden. Da momentan noch nicht absehbar ist, wie Veranstaltungen im Zusammenhang mit Covid-19 durchgeführt werden können, ist eine genaue Terminierung des Runden Tischs nicht möglich. Es werden in jedem Fall mehrere Sitzungen eingeplant. Über die konkreten Termine wird zum gegebenen Zeitpunkt informiert. Ihre Bewerbungsunterlagen senden Sie bitte an die Stadtverwaltung Erfurt, Amt für Geoinformation, Bodenordnung und Liegenschaften, Warsbergstraße 3, 99092 Erfurt. Alternativ ist auch eine Übersendung per E-Mail an geoinformation@erfurt.de möglich.

Bitte fügen Sie folgende Informationen Ihrer Bewerbung bei, eine ausführliche Darstellung Ihrer Beweggründe ist nicht erforderlich:
   - Name, Vorname
   - Anschrift
   - E-Mail (Angabe freiwillig) 
   - Telefon (Angabe freiwillig) 
   - Anwohner / Gewerbetreibender
   - Für eine Umbenennung / gegen eine Umbenennung

Bewerbungsfrist: 30. November 2021 

Die Kontaktstelle des Runden Tisches bei der Stadtverwaltung Erfurt (Amt für Geoinformation, Bodenordnung und Liegenschaften) koordiniert die Arbeit nach innen und organisiert die Zusammenarbeit mit weiteren Partnern. 

Seit März 2020 setzen wir uns für eine Umbenennung des Erfurter Nettelbeckufers in Gert-Schramm-Ufer ein und möchten an dieser Stelle alle Erfurterinnen und Erfurter herzlich dazu einladen, sich am Runden Tisch zu beteiligen. Wir sind davon überzeugt, dass ein solcher Beteiligungsprozess zu fruchtbaren Gesprächen führen kann und ein wichtiger Schritt in der Auseinandersetzung mit dem kolonialen Erbes Erfurts darstellt.

Bei Fragen wendet euch gerne direkt an das Amt für Geoinformation (Adressen siehe oben) oder wendet euch an uns z.B. unter unserer E-Mail-Adresse decolonize.erfurt@gmail.com.


Dekolonialer Stadtrundgang

26.10.2021, 16-18 Uhr, Treffpunkt: Fischmarkt Erfurt

Es reicht nicht aus, den deutschen Kolonialismus zeitlich und institutionell zu erweitern (von den Fuggern und Welsern Anfang des 16. Jahrhunderts bis heute), sondern das koloniale Erfurt muss auch räumlich neu verstanden werden – in seinen globalen Verflechtungen und Bedingungskonstellationen.
Der dekoloniale Stadtrundgang zu den Alternativen Einführungstagen hat einen globalgeschichtlichen Schwerpunkt und verdeutlicht damit einen zentralen Aspekt des Ansatzes der Initiative Decolonize Erfurt zur Aufarbeitung der Kolonialgeschichte.


Dekolonialer Stadtrundgang

19.10.2021, 16-18 Uhr, Treffpunkt: Ecke Augustinerstraße / Am Hügel

Es reicht nicht aus, den deutschen Kolonialismus zeitlich und institutionell zu erweitern (von den Fuggern und Welsern Anfang des 16. Jahrhunderts bis heute), sondern das koloniale Erfurt muss auch räumlich neu verstanden werden – in seinen globalen Verflechtungen und Bedingungskonstellationen.
Der dekoloniale Stadtrundgang zu den Alternativen Einführungstagen hat einen globalgeschichtlichen Schwerpunkt und verdeutlicht damit einen zentralen Aspekt des Ansatzes der Initiative Decolonize Erfurt zur Aufarbeitung der Kolonialgeschichte.


Menschheitsverbrechen nicht länger mit Straßennamen ehren!

Drei Expert*innengespräche zum Erfurter Nettelbeckufer haben die Notwendigkeit der Umbenennung bekräftigt

Bei der Sitzung des Erfurter Stadtrats am 28. April 2021 stehen wieder zwei gegenläufige Anträge zum Nettelbeckufer auf der Tagesordnung. CDU, FDP und Freie Wähler/Piraten möchten eine neue Straße nach Gert Schramm benennen und am Nettelbeckufer ein Zusatzschild anbringen – was die AfD als Erfolg ihrer monatelangen Anti-Umbenennungskampagne verbucht. SPD, Linke, Bündnis 90/Die Grünen und Mehrwertstadt wollen dagegen einen Runden Tisch, an dem Stadtverwaltung, Stadtratsfraktionen, Umbenennungsinitiativen und Anwohner*innen gemeinsam nach einer Lösung suchen. Beide Anträge sollten bereits bei der Stadtratssitzung am 3. Februar abgestimmt werden, wurden jedoch pandemiebedingt vertagt.

Am Tag vor der damaligen Stadtratssitzung hatte sich der Erfurter Oberbürgermeister Andreas Bausewein erstmals öffentlich positioniert und gegen die Umbenennung des Nettelbeckufers in Gert-Schramm-Ufer ausgesprochen. Seine drei Argumente: 1) Historische Persönlichkeiten seien nach den Maßstäben ihrer Zeit zu beurteilen. 2) Nettelbeck habe sich am Ende seines Lebens vom Versklavungshandel distanziert, was in den 1820er-Jahren „bemerkenswert“ gewesen sei. 3) Würde heutigen Maßstäben gefolgt, müssten 80% der Straßen umbenannt werden. Wir von Decolonize Erfurt haben darauf mit einem Offenen Brief an den OB („Keine Lex Nettelbeck in Erfurt!“) reagiert und an Folgendes erinnert: Laut Beschluss des Erfurter Stadtrats von 1991 müssen Namensgeber*innen von Straßen aus heutiger Sicht positive Leistungen aufweisen; es gehörte in den 1820er-Jahren in Europa zum guten Ton, sich vom Versklavungshandel zu distanzieren; in Erfurt sind gerade mal etwas mehr als 20% der Straßen nach Personen benannt. Des Weiteren wurden von uns drei Expert*innengespräche („Im Dekolonial-Salon“) angekündigt, um zusätzliches historisches Wissen in die Debatte einzuspeisen. Inzwischen haben die Online-Veranstaltungen stattgefunden und wir wollen die Gelegenheit nutzen, ihre wichtigsten Ergebnisse zu rekapitulieren.

Beim ersten Expert*innengespräch am 22. Februar war Jens-Christian Wagner, der Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, zu Gast. Bereits im Vorfeld hatte Wagner gegenüber dem MDR die Argumentation von OB Bausewein als „absurd“ kritisiert. Sie würde darauf hinauslaufen, „NS-Funktionäre nach den Maßstäben von 1933 zu bewerten“. Bei der Veranstaltung selbst ging es vor allem um die Frage, was sinnvolle Kriterien für Straßennamen sein können. Wagner betonte, dass Leistungen von Namensgeber*innen, die aus heutiger Sicht positiv sind, nicht ausreichen, sondern dass die Ehrung in einer Gesamtabwägung der jeweiligen Biographie gerechtfertigt werden muss. Dabei gelte es, so Wagner, „die roten Linien weit zu ziehen“. Wenn sie jedoch überschritten seien, müsse gehandelt und umbenannt werden. Zu den roten Linien gehört für Wagner die Beteiligung an Verbrechen, was bei Nettelbeck, der den Versklavungshandel von bis zu 750 Menschen vor Ort befehligt hat, eindeutig der Fall sei. Nach dem Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofes von 1998 – das möchten wir an dieser Stelle ergänzen – ist Versklavung zu den Menschheitsverbrechen („crimes against humanity“) zu rechnen.

Mit Michael Zeuske, einem der international renommiertesten Sklavereihistoriker*innen, haben wir am 2. März über Spezifika des transatlantischen Versklavungshandels diskutiert. Diesen bezeichnete Zeuske als „gigantische Ausbeutungs-, Kapital- und Warenschöpfungsmaschinerie, die 11 Millionen versklavte Menschen in die größte Zwangsmigration der Weltgeschichte einbrachte.“ Wer daran beteiligt gewesen sei, müsse das auch verantworten. Die Versklavungsschiffe, auf denen Nettelbeck als Obersteuermann tätig war, seien „schwimmende Gefängnisse“ gewesen. Für ebenso schwerwiegend wie die Beteiligung am transatlantischen Versklavungshandel hält Zeuske Nettelbecks Einsatz als Propagandist, der die preußischen Eliten für den Kolonialismus gewinnen wollte. Dazu hätte auf jeden Fall auch zukünftige Sklaverei gehört. Zeuske ging in seiner Einschätzung von Nettelbecks Taten sogar noch weiter als wir bisher: „Er ist kein Sklavenhändler gewesen, aber nicht mal das wissen wir ganz genau. Das schreibt er nicht in seiner Biografie. Er wird das nicht geschrieben haben, weil das illegal war. Wahrscheinlich hat er Eigenhandel getrieben.“

Bei der abschließenden Veranstaltung am 9. März hat Sarah Lentz ihre Expertise zur Sklavereikritik und -gegnerschaft in Deutschland mit uns geteilt. Ihr zufolge handelt es sich bei Nettelbecks „Distanzierung“ vom Versklavungshandel in erster Linie um eine Legitimation des eigenen Tuns, die in der damaligen Zeit typisch war: Versklavungsakteure kehrten nach Europa zurück und sahen sich erheblichem Rechtfertigungsdruck ausgesetzt. Es habe unter den zeitgenössischen deutschen Ozean-Seefahrern auch Personen gegeben, die sich dem Versklavungshandel konsequent verweigerten, statt ihn – wie Nettelbeck – aus Bereicherungsmotiven zu suchen, so z.B. der Handelskapitän Jens Jacob Eschels. Lentz betonte darüber hinaus, dass sich Nettelbeck gegenüber der karibischen Plantagensklaverei noch deutlich ambivalenter geäußert hat als gegenüber dem Versklavungshandel – was wiederum exakt den damaligen „Zeitgeist“ widerspiegelt: Der Versklavungshandel war 1807 durch das Britische Empire verboten worden, die Plantagensklaverei in den beiden Amerikas existierte fort. Wie Zeuske ging auch Lentz in ihrer kritischen Analyse von Nettelbecks Tun weiter als wir es bisher getan haben: Sie präsentierte eine Stelle der Autobiographie, die in ihren Augen darauf hinweist, dass Nettelbeck mindestens einen persönlichen Sklaven hatte, dass er also selbst ein Sklavenhalter war.

Die drei Expert*innengespräche haben bekräftigt, dass es keine guten Gründe gibt, am Erfurter Nettelbeckufer festzuhalten, und dass dessen Umbenennung in Gert-Schramm-Ufer überfällig ist. Der Stadtrat wird die Frage beantworten müssen, ob er Erfurt als weltoffene und tolerante Landeshauptstadt voranbringen will oder nicht.


Aufnahme aus griechischen Flüchtlingslagern: Land Thüringen soll gegen Bundesinnenministerium klagen

18 Thüringer Organisationen und Initiativen starten Online-Petition

18 Thüringer Organisationen und Initiativen wenden sich an den Petitionsausschuss des Landtags und fordern die Landesregierung auf, Klage gegen das Bundesinnenministerium (BMI) einzureichen. Ziel ist es, das geplante Thüringer Landesaufnahmeprogramm für Geflüchtete aus den griechischen Elendslagern gegen den Bund durchzusetzen. Zuletzt hatten die Länder Berlin und Thüringen im Herbst 2020 ihre Bereitschaft zur humanitären Aufnahme von Geflüchteten aus den desolaten und überfüllten Lagern der griechischen Inseln signalisiert. Die Landesaufnahmeprogramme wurden jedoch vom Bundesinnenministerium blockiert. Der Berliner Senat hatte bereits gegen den Vorbehalt des Bundes Klage eingereicht. Nun wird die Thüringer Regierung aufgefordert, ebenso zu klagen.

Philipp Millius vom Flüchtlingsrat Thüringen e.V. sagt dazu: „Wir begrüßen ausdrücklich die Bereitschaft Thüringens, 500 Geflüchtete aus den griechischen Elendslagern zu evakuieren. Landeseigene Aufnahmeprogramme sind geboten und rechtlich möglich. Nun geht es um die grundsätzliche Klärung, unter welchen Voraussetzungen das BMI das Einvernehmen zu diesen Landesaufnahmeprogrammen überhaupt verweigern darf.“

Mit dem Start der Online-Petition auf der Plattform des Thüringer Petitionsausschusses kann ab dem 29. März bis zum 10. Mai diesen Jahres mitgezeichnet werden.

Die Petent:innen fordern, dass auch das Land Thüringen dem Berliner Beispiel folgt und laden am Samstag, den 10.04., um 18 Uhr zur digitalen Informationsveranstaltung „Aufnahme durchsetzen! Wie Thüringen handeln kann“.

Die Petition kann hier auf der Petitionsplattform des Thüringer Landtages mitgezeichnet werden.

Einreichende Organisationen und Initiativen:

  • Decolonize Erfurt
  • DGB Jugend Erfurt
  • Ende Gelände Jena
  • Flüchtlingsrat Thüringen e.V.
  • Fridays for Future Erfurt
  • Fridays for Future Jena
  • Jugendparlament Jena
  • Junge Gemeinde Stadtmitte
  • Landesnetzwerk der Migrant*innenorganisationen – MigraNetz Thüringen
  • MOVE e.V.
  • Naturfreundejugend Erfurt
  • Offene Arbeit Erfurt
  • Parents & Scientists for Future Jena
  • Refugee Law Clinic Jena e.V.
  • Seebrücke Erfurt
  • Seebrücke Jena
  • Sprachcafé Erfurt
  • ver.di Jugend Thüringen

Im Dekolonial-Salon: Bewertungsmaßstäbe für historische Personen

In der Debatte um die Umbenennung des Erfurter Nettelbeckufers in Gert-Schramm-Ufer hat sich der Erfurter Oberbürgermeister Andreas Bausewein jüngst dafür ausgesprochen, historische Personen nach den Maßstäben ihrer Zeit zu beurteilen und nicht nach unseren gegenwärtigen Wertvorstellungen. Dem steht das Kriterium des Erfurter Stadtrats aus dem Jahr 1991 entgegen, dass Namensgeber*innen von Straßen Leistungen aufweisen müssen, die „aus heutiger Sicht“ als positiv zu bewerten sind. Ähnlich argumentiert der Historiker Jürgen Zimmerer, wenn er in der „Thüringer Allgemeinen“ dazu einlädt, „jetzt zu sagen, wofür ein Nettelbeck heute geehrt werden soll.“

Welche der beiden Sichtweisen ist plausibler? Besteht bei der gegenwartsbezogenen Beurteilung die Gefahr, dass historische Personen überhaupt nicht mehr mit Straßennamen geehrt werden können, weil sich Werte- und Moralvorstellungen beständig ändern? Und was heißt es überhaupt, historische Personen „nach den Maßstäben ihrer Zeit“ zu beurteilen? Wann endet „ihre Zeit“ und wann fängt „unsere“ an? Sollten wir uns an den herrschenden Maßstäben früherer Zeiten orientieren oder an marginalisierten Stimmen? Welche Möglichkeiten bestehen, die gegenwartsbezogene und die historische Sichtweise miteinander zu verbinden?

Antworten auf diese Fragen entwickeln wir mit Prof. Dr. Jens-Christian Wagner, dem Inhaber des Lehrstuhls „Geschichte in Medien und Öffentlichkeit“ an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora. Jens-Christian Wagner ist Historiker und Autor mehrerer Bücher zur Geschichte des Nationalsozialismus.

Link zur Veranstaltungsseite: https://www.facebook.com/events/1469291786737772/


Im Dekolonial-Salon: Expert*innengespräche zum Nettelbeckufer

Seit März 2020 fordern die Initiative Schwarze Menschen in Deutschland und Decolonize Erfurt die Umbenennung des Erfurter Nettelbeckufers in Gert-Schramm-Ufer.

Joachim Nettelbeck (1738 – 1824) war ein preußischer Seefahrer, der als Obersteuermann auf niederländischen Versklavungsschiffen den Handel mit bis zu 750 Menschen befehligte und der versuchte, drei preußische Könige zum Erwerb von Kolonien zu bewegen. Um die „nationale Ehre“ zu retten, zog er seine Heimatstadt Kolberg 1807 in eine sinnlose und mörderische Abwehrschlacht gegen Napoleon hinein, weshalb die Nazis ihn als Propagandahelden für den „Endsieg“ aufgebaut haben.

Gert Schramm (1928 – 2016), der vorgeschlagene neue Namensgeber, war ein Schwarzer Überlebender des KZ Buchenwald und Antifaschist, der für sein Engagement gegen Rechts 2014 das Bundesverdienstkreuz verliehen bekommen hat. Nicht nur waren seine Vorfahren väterlicherseits im transatlantischen Versklavungshandel nach Kuba verschleppt worden, er wurde auch am Erfurter Nettelbeckufer geboren.

In der Debatte um die Umbenennung hat zuletzt der Erfurter Oberbürgermeister Andreas Bausewein Position bezogen. Auch wenn wir als Decolonize Erfurt diese nicht teilen, weil sie de facto auf eine „Lex Nettelbeck“ hinausläuft (siehe unseren Offenen Brief vom 9.2.2021: https://decolonizeerfurt.wordpress.com/…/offener-brief…/), begrüßen wir ausdrücklich den Versuch, Kriterien für eine gemeinsame, sachorientierte Debatte um das Nettelbeckufer und den Umgang mit dem kolonialen Erbe zwischen den verschiedenen Akteur*innen zu finden.

Dazu wollen wir kurzfristig mit der Reihe „Im Dekolonial-Salon“ beitragen. In drei Expert*innengesprächen sollen Hintergründe und Fakten zu Fragen der Erinnerungspolitik und der (deutschen) Kolonialgeschichte erörtert werden.

Mit Jens-Christian Wagner, dem Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, diskutieren wir am 22. Februar die Frage der Bewertungsmaßstäbe: Mit welchen Maßstäben können wir historische Personen beurteilen? In welchem Verhältnis stehen in der Vergangenheit herrschende Wertvorstellungen zu heutigen demokratischen Gerechtigkeitsstandards?

Michael Zeuske, einer der international renommiertesten Sklavereihistoriker*innen, führt am 2. März in ein Thema ein, dass zum Verständnis Nettelbecks von zentraler Bedeutung ist: den transatlantischen Versklavungshandel. Wie hat dieser funktioniert und welche Rolle haben Deutsche darin gespielt?

Mit Sarah Lentz, die 2020 eine wegweisende Studie über deutsche Sklavereigegner*innen vorgelegt hat, unterhalten wir uns schließlich am 9. März darüber, was es mit Nettelbecks später Distanzierung vom Versklavungshandel auf sich hat. Wie stellt sich diese im Kontext ihrer Zeit dar, was war damals der Stand der sklavereikritischen Debatte?

Alle Veranstaltungen finden via Facebook live statt:

22. Februar 2021, 19 Uhr
Prof. Dr. Jens-Christian Wagner: Bewertungsmaßstäbe für historische Personen
https://fb.me/e/yOaTgQAW

2. März 2021, 19 Uhr
Prof. Dr. Michael Zeuske: Der transatlantische Versklavungshandel
https://fb.me/e/449NjKM3q

9. März 2021, 18 Uhr
Dr. Sarah Lentz: Deutsche Sklavereikritik um 1820
https://fb.me/e/5iq8u90tP


Offener Brief an OB Bausewein: Keine „Lex Nettelbeck“ in Erfurt!

Decolonize Erfurt, 9.2.2021

Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister, lieber Herr Bausewein,

in der Thüringer Allgemeinen (TA) vom 2.2. (online) bzw. 3.2.2021 (print) haben Sie sich gegen eine Umbenennung des Erfurter Nettelbeckufers in Gert-Schramm-Ufer ausgesprochen: „Historische Persönlichkeiten müssten vor dem Hintergrund ihrer Zeit betrachtet werden. >Glücklicherweise haben wir uns ethisch und moralisch weiterentwickelt<, meinte Bausewein. Heutige Persönlichkeiten würden nach heutigen Grundsätzen beurteilt. >Aber wenn wir alle historischen Persönlichkeiten mit heutigem Maß messen würden, müssten wir 80 Prozent der Straßennamen ändern<“.

Wir von Decolonize Erfurt begrüßen es, dass Sie sich in die Debatte einbringen. Die Auseinandersetzung um die Umbenennung des Nettelbeckufers sowie der Umgang mit dem kolonialen Erbe insgesamt sind stark von Emotionen und Fehlinformationen geprägt. Um die Stadt voranzubringen, sind Kriterien für Straßennamen notwendig, über die sich die verschiedenen Akteur*innen verständigen können.

Das von Ihnen vorgeschlagene Kriterium halten wir allerdings nicht für zielführend. Es lässt sich kaum verallgemeinern und würde de facto auf eine „Lex Nettelbeck“ hinauslaufen. Machen Sie die Gegenprobe: Hätten Ihre Vorgänger*innen historische Persönlichkeiten, wie Sie es vorschlagen, vor dem Hintergrund ihrer Zeit beurteilt, gäbe es heute in Erfurt noch eine Horst-Wessel-Straße und eine Wilhelm-Pieck-Straße. Beide, Wessel und Pieck, waren nach den herrschenden Maßstäben ihrer Zeit Vorbilder und Helden.

Der Erfurter Stadtrat hat Straßenumbenennungen 1991 folgendermaßen begründet: „Eine Überprüfung der Biographien der betreffenden Personen ergab, dass aus heutiger Sicht ihre Leistungen eine Straßennamensvergabe kaum rechtfertigen.“ (TA vom 7.11.2020) Das Kriterium, dass Namensgeber von Straßen aus heutiger Sicht positive Leistungen aufweisen müssen, lässt Raum für Ambivalenzen und bewährt sich auch angesichts gegenwärtiger Debatten.

Laut TA stellt sich für Sie die Ehrung Nettelbecks so dar: „Joachim Nettelbeck (1738 – 1824) sei nicht für seine Tätigkeit auf einem Sklavenschiff, sondern für seine Verteidigung von Kolberg mit einem Straßennamen geehrt worden und habe sich später von seinen Fahrten auf Sklavenschiffen distanziert. Unter den damaligen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen sei das >bemerkenswert<.“

Was hat es mit der Verteidigung Kolbergs auf sich? Nettelbeck hat seine Heimatstadt 1807 in eine sinnlose und mörderische Abwehrschlacht gestürzt, die primär der „nationalen Ehre“ diente, also nur aus nationalistischer Perspektive vorbildhaft ist. Genau deshalb haben ihn die Nazis als Propagandahelden für den „Endsieg“ beschworen. Darüber hinaus hat Nettelbeck die Versklavung von bis zu 750 Menschen befehligt und versucht, drei preußische Könige zum Erwerb von Kolonien zu bewegen, weshalb er zur Zeit der Erfurter Straßenbenennung auch als Pionier des deutschen Kolonialismus verehrt wurde. Es gibt in seiner Biographie keine positiven Leistungen, die das aufwiegen.

Ihr anderer Punkt: Dass Nettelbeck sich am Ende seines Lebens von den Fahrten auf Versklavungsschiffen distanziert hat, mag auf den ersten Blick „bemerkenswert“ erscheinen, schließlich sind die USA zu diesem Zeitpunkt noch fast ein halbes Jahrhundert von der Abschaffung der Sklaverei entfernt. Allerdings hatte das Britische Empire den Versklavungshandel bereits 1807 verboten und schon im Preußischen Landrecht von 1794 findet sich eine, wenn auch inkonsequente, Abkehr von der Sklaverei. Als Nettelbeck im Jahr 1821 die ersten beiden Bände seiner Autobiographie veröffentlichte, gehörte es in Deutschland zum guten Ton, Sklaverei und Versklavungshandel abzulehnen. Wer mit dem „bösen Geschäft“ etwas zu tun gehabt hatte, stand unter erheblichem Rechtfertigungsdruck, und entsprechend fällt auch Nettelbecks „Distanzierung“ aus: Es war der Geist der Zeit, es war nicht so schlimm, ich persönlich habe mir nichts zu Schulden kommen lassen.

Schließlich noch zu Ihrer Sorge, bei Anwendung heutiger Maßstäbe seien „80 Prozent der Straßennamen“ in Gefahr. Wir haben bei der Stadtverwaltung nachgefragt: In Erfurt gibt es derzeit 1769 Straßen, Plätze, Wege und Gassen. Wie viele davon überhaupt nach historischen Personen benannt sind, konnte die Verwaltung uns auf Anhieb nicht sagen (will es aber bis Herbst herausfinden). Eine erste grobe Zählung unsererseits ergab 390 Personen, das sind ca. 22 Prozent. Nach dem bewährten Erfurter Kriterium dürften sich bei den allermeisten der Namensgeber*innen Leistungen finden lassen, die aus heutiger Sicht positiv zu bewerten sind.

Lieber Herr Bausewein, Ihre Stellungnahme hat für uns noch einmal deutlich gemacht, wie wichtig es ist, über die Hintergründe und Fakten zu Erinnerungspolitik und Kolonialismus zu informieren. Dazu wollen wir kurzfristig mit einer Reihe von Expertinnengesprächen („Im Dekolonialsalon“) beitragen.

  • Am 22.2. unterhalten wir uns um 19 Uhr mit Prof. Dr. Jens-Christian Wagner, dem Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, über Bewertungsmaßstäbe für historische Persönlichkeiten.
  • Am 2.3. führt Prof. Dr. Michael Zeuske, einer der international renommiertesten Sklavereihistoriker*innen, um 19 Uhr in die Geschichte des transatlantischen Versklavungshandels ein.
  • Am 9.3. diskutieren wir um 18 Uhr mit Dr. Sarah Lentz, die 2020 eine wegweisende Studie zu deutschen Sklavereigegner*innen vorgelegt hat, über Nettelbecks „Distanzierung“ und ihren Kontext (alles über die Facebook-Seite von Decolonize Erfurt).

Wir hoffen sehr, dass unsere Anmerkungen Interesse wecken konnten für eine sachorientierte Debatte über die Umbenennung des Nettelbeckufers. Bitte unterstützen Sie den Vorschlag Ihrer SPD-Fraktion, einen Runden Tisch einzurichten, der ein geeigneter Rahmen für das Abwägen all dieser Fragen ist.

Mit den besten Grüßen,
Decolonize Erfurt


Veränderung miteinander und füreinander. Der Jahresrückblick auf die Umbenennungskampagne Von Decolonize Erfurt

Liebe Mitbürger*innen, Unterstützer*innen und Freund*innen,

Das Krisenjahr 2020 neigt sich dem Ende zu und wir wollen den Jahreswechsel zum Anlass nehmen, das Erreichte Revue passieren zu lassen und auf bevorstehende Herausforderungen zu blicken. Als zivilgesellschaftliche Initiative haben wir wieder vielfältige Aktivitäten entfaltet. Neben unserem Kerngeschäft, den dekolonialen Stadtrundgängen, haben wir z.B. gemeinsam mit den Städtischen Geschichtsmuseen, der Landeszentrale für politische Bildung Thüringen, der Rosa Luxemburg Stiftung Thüringen und der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland (ISD) die Ausstellung „Breaking the Silence: Der Zorn des Mdachi bin Sharifu“ nach Erfurt geholt und ein umfangreiches Begleitprogramm organisiert. Im September haben wir mit den Decolonize-Gruppen aus Weimar und Jena sowie dem Eine Welt Netzwerk Thüringen das Netzwerk „Decolonize Thüringen“ gegründet, das die dekolonialen Aktivitäten im Freistaat bündelt.

Entscheidend geprägt war unser Jahr jedoch durch die Kampagne zur Umbenennung des Erfurter Nettelbeckufers in Gert-Schramm-Ufer, die wir im März zusammen mit der ISD gestartet haben. Die Kampagne sollte, so der ursprüngliche Plan, mit einer Informationsveranstaltung primär für die Anwohner*innen beginnen. Covid-19 und der erste Lockdown machten einen Strich durch die Rechnung und wir mussten zunächst digital agieren. Die ersten beiden Kampagnenmonate bestanden daher aus einer Online-Lesung aus Gert Schramms Autobiographie „Wer hat Angst vorm schwarzen Mann“, einem Q&A-Format, in dem wir auf Einwände eingegangen sind, und der Veröffentlichung eines wissenschaftlichen Gutachtens, das drei Mitglieder unserer Initiative verfasst haben. Anfang Juni haben wir eine Broschüre herausgebracht, die das Umbenennungsvorhaben ausführlich begründet. Über den Sommer folgte eine Serie von Freiluftveranstaltungen, die von einer eigens entwickelten Wanderausstellung begleitet wurden. Wir waren mit diesem Format zunächst am Nettelbeckufer und dann mehrfach auf dem Fischmarkt, u.a. um den 25. Geburtstag des Erfurter Deserteurdenkmals zu begehen. Hinzu kamen Lesungen aus Gert Schramms Autobiographie vor dem Kulturquartier und der Lutherkirche sowie Schulprojekte in der Jenaplanschule am Nettelbeckufer und in der Gemeinschaftsschule am Roten Berg.

In einem offenen Brief haben sich 32 Persönlichkeiten aus Stadt und Land für die Umbenennung ausgesprochen; von der Gedenkstätte Buchenwald gab es eine Solidaritätsbotschaft. Die von uns lancierte Petition wurde von über 1000 Erfurter*innen sowie 1300 auswärtigen Befürworter*innen unterzeichnet. Im Erfurter Stadtrat unterstützen uns die Fraktionen von Die Linke, Bündnis 90/Die Grünen und Mehrwertstadt. Entsprechend groß war auch das Echo in den Medien: eine Vielzahl von Artikeln in der Thüringer Allgemeinen, mehrere Beiträge bei MDR, Deutschlandradio und taz sowie eine rege Berichterstattung bei Radio F.R.E.I.

Mit der Umbenennungskampagne haben wir in der Erfurter Stadtgesellschaft eine kontroverse öffentliche Debatte über Straßenumbenennungen, Erinnerungspolitik, Kolonialismus und Joachim Nettelbeck angeregt und Gert Schramm die Aufmerksamkeit verschafft, die er verdient. Ein Resultat unserer Aktivitäten ist, dass der Erfurter Stadtrat kurz vor Verabschiedung eines Antrags steht, der die Stadt zur Aufarbeitung ihres kolonialen Erbes verpflichtet und dafür auch Mittel bereitstellt. Darüber hinaus haben wir überregional gewirkt, und zwar in einem Maß, das uns selbst überrascht. Eberswalde hat mit Bezug auf unsere Kampagne beschlossen, seinen Bahnhofsvorplatz nach Gert Schramm zu benennen, den Ort, an dem der Bundesverdienstkreuzträger lange Jahre sein Taxi stehen hatte. In Dortmund wurde Anfang Dezember, ebenfalls mit Bezug auf uns, entschieden, die dortige Nettelbeckstraße umzubenennen. Die Vorbildfunktion für die vielen anderen Städte mit nach Nettelbeck benannten Straßen, die wir für Erfurt vorgesehen hatten, geht damit von der Ruhrmetropole im Westen Deutschlands aus.

Die öffentliche Debatte zur Umbenennung hat ausgezeichnete Beiträge, manche Polemik und auch überraschende Wendungen gesehen. So hat der Historiker Steffen Raßloff, einer unserer schärfsten Kritiker, zugestanden, dass heute wohl keine Straße mehr nach Nettelbeck benannt werden würde. Gleichwohl hält er eine Umbenennung des Nettelbeckufers für unangemessen, da der Namensgeber nur ein Kolonialist zweiten Ranges gewesen sei. Die Frage, die Erfurt zu beantworten hat, lässt sich damit folgendermaßen formulieren: Muss der Namensgeber einer Straße, die umbenannt werden soll, ein sadistischer Massenmörder à la Carl Peters gewesen sein? Oder reicht es, dass er, wie Nettelbeck, die Versklavung von bis zu 700 Menschen vor Ort organisiert hat, dass er versucht hat, drei preußische Könige zum Erwerb von Plantagen- und Versklavungskolonien zu bewegen, und dass er, weil er seine Heimatstadt für die „nationale Ehre“ geopfert hat, zu einer identitätsstiftenden Figur des deutschen Nationalismus und zum Propagandahelden der Nazis wurde?

Die Erfurter AfD hat im Sommer drei Monate lang ihren gesamten Parteiapparat in Bewegung gesetzt, um am Ende rund 400 gültige Unterschriften für einen Einwohner*innenantrag zu sammeln, der fordert: „Das Nettelbeckufer wird nicht umbenannt.“ Der Erfurter Stadtrat hat den AfD-Antrag Mitte Dezember mit überwältigender Mehrheit abgelehnt. Wenn die Rechtsextremen den „Patrioten Nettelbeck“ vor dem „linken Kulturkampf“ schützen wollen, geht es ihnen, genauso wie bei der Verdrängung des kolonialen Unrechts insgesamt, vor allem um eins: die „erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“ (Björn Höcke). Etabliert werden soll die Erzählung, die Shoah und die anderen NS-Genozide seien ein Betriebsunfall bzw. ein „Vogelschiss“ (Alexander Gauland) in einer ansonsten großartigen und glorreichen deutschen Geschichte gewesen. Wohin dieser Umgang mit Geschichte führt, zeigen die Terroranschläge von Halle und Hanau wie auch die derzeitige Pandemiesituation.

Die Stadtratsfraktionen von CDU, FDP und Freien Wählern/Piraten haben Anfang Oktober einen Antrag vorgelegt, der die Neubenennung einer Erfurter Straße nach Gert Schramm sowie ein Zusatzschild am Nettelbeckufer vorsieht. Die drei Fraktionen verstehen ihren Antrag als „demokratischen Kompromiss“. Wir möchten an dieser Stelle nochmals betonen, dass dieser Vorschlag sowohl der Form als auch dem Inhalt nach inakzeptabel ist. Der Form nach: Ein Kompromiss ist etwas, auf das sich zwei Seiten verständigen, und nicht etwas, das eine Seite vorgibt. Dem Inhalt nach: Die Neubenennung einer Straße nach Gert Schramm stellt eine Ehrung zweiter Klasse dar, da sie dem Buchenwald-Überlebenden die Straße seiner Geburt, das Nettelbeckufer, verweigert und in der Form der Ehrung gerade nicht vollzieht, wofür der Bundesverdienstkreuzträger sein Leben lang gekämpft hat: den Perspektivwechsel von den Täter*innen zu den Opfern. Irgendwo am Nettelbeckufer ein Zusatzschild anzubringen, auf dem steht, dass der Namensgeber eigentlich nicht geehrt gehört, führt die Ehrungsfunktion von Straßennamen ad absurdum, untergräbt öffentliche Institutionen und damit letztlich auch die Demokratie.

Sollte der Antrag der drei Fraktionen 2021 eine Mehrheit finden, wird er nur eins erreichen: Gert Schramm als neuen Namensgeber des Nettelbeckufers zu verhindern. Auf diese Weise würde die einmalige erinnerungspolitische Chance vertan, in Erfurt einen Ort zu schaffen, der das KZ Buchenwald mit dem „Schwarzen Atlantik“, dem transatlantischen Versklavungshandel und der Kultur Schwarzen Widerstands, verbindet. Die Diskussion um das Nettelbeckufer wird dadurch nicht beendet, und die Forderung nach Umbenennung auch nicht verstummen. Es gibt diverse Schwarze Persönlichkeiten, die als neue Namensgeber*innen ebenfalls in Frage kommen: May Ayim, Sojourner Truth, Ida Wells, W.E.B. Du Bois, Theodor Michael oder Mdachi bin Sharifu, wobei die drei männlichen Kandidaten sogar über einen Regional- bzw. Lokalbezug verfügen. Was die CDU den Anwohner*innen verspricht: für „Klarheit und Ruhe“ zu sorgen, kann sie im Alleingang gar nicht erreichen. Nötig ist dafür, dass die demokratischen Kräfte sich zusammensetzen und gemeinsam eine Lösung finden. Dazu bedarf es tatsächlicher Kompromissbereitschaft und politischer Phantasie – letztere ist, im Unterschied zur Landesebene, bislang noch nicht die allergrößte Stärke unserer Stadt.

Neben „Nettelbeck war nicht schlimm genug“ ist als Hauptargument gegen die Umbenennung immer wieder auf unzumutbare Kosten und Aufwände für die Anwohner*innen verwiesen worden. Sachlich wurde dieser Einwand bereits durch eine offizielle Auskunft entkräftet, die Torben Stefani, der Vorsitzende der Straßennamenskommission, im August erteilt hat: Kosten und Aufwände sind sowohl für die Anwohner*innen als auch die Stadt überschaubar. Es existiert an dieser Stelle auch eine eigentümliche Ironie des Protests: Der Aufwand, den einige Anwohner*innen betreiben, um gegen die Umbenennung zu mobilisieren, übersteigt bei Weitem alles, was durch die Umbenennung auf sie zukäme. Bereits im September haben Anwohner*innen, die die Umbenennung befürworten, in einem Brief an ihre Nachbar*innen angemerkt, dass all das Engagement, dagegen zu sein, locker ausreichen würde, die Umbenennung gemeinsam und solidarisch zu stemmen. Das gilt auch für das neue Jahr: Es ist nie zu spät, negative in positive Energie zu verwandeln.

In diesem Zusammenhang müssen wir auch selbstkritisch sein: Wir haben die Konfrontationsdynamiken unterschätzt, die durch die Umbenennungsforderung im Allgemeinen und die Pandemiesituation im Besonderen entstanden sind. Und wir haben zu wenig unternommen, um derartigen Dynamiken aktiv entgegenzuwirken. Wir werden daher im neuen Jahr nochmals einen Schritt auf die Anwohner*innen zugehen. Unsere Hoffnung ist, dass sich daraus ein Gespräch entwickelt, das durch wechselseitiges Einander-Zuhören gekennzeichnet ist. Zur Demokratie gehört der Streit – den wir bekanntermaßen gerne kultivieren. Am Ende des Tages kommt es jedoch darauf an, dass keine Seite die andere dominiert und eine Verständigung unter Freien und Gleichen stattfindet.

Besonders zu denken gegeben hat uns, dass unser Agieren mit Überwältigungen verglichen wurde, wie sie nach 1989 in Ostdeutschland stattgefunden haben. Wir bedauern es zutiefst, sollten wir Salz in die entsprechenden Wunden gestreut haben. Gleichzeitig liegt in dieser Konstellation auch eine große Chance. Erinnerung muss nicht kompetitiv und ausschließend sein. Das Anliegen, um das es bei der Umbenennung geht, hat der Publizist Henryk Goldberg auf den Punkt gebracht: „Von der Hitler-Zeit erzählen, zum Beispiel, die Thälmannstraße und eben die Stauffenbergallee, auch ohne Hitler-Straßen.“ Wir wollen eine Erinnerungskultur, in der sowohl für die Menschheitsverbrechen des Kolonialismus und des NS als auch für das Unrecht der DDR und die Unrechtserfahrungen nach 1989 Platz ist. Nur so lassen sich die Gräben überwinden, die die Hetzer*innen und Spalter*innen jeden Tag von Neuem ausheben. Wir begrüßen daher auch ausdrücklich das stadthistorische Projekt „Leben am Nettelbeckufer“, das beim Jugendforum von Radio F.R.E.I. angesiedelt ist und unabhängig von der Umbenennungsdebatte das Ziel verfolgt, die Geschichte der Straße durch die Erzählungen ihrer verschiedenen Bewohner*innen festzuhalten.

Das Leben von Gert Schramm zeigt, dass Krisen nur mit Solidarität und Offenheit gegenüber Veränderungen bewältigt werden können. Das gilt für die Corona-Pandemie und in gesteigertem Maß auch für die Klimakrise. Wir wollen mit der Umbenennungskampagne auch im neuen Jahr dazu beitragen, eine solche Solidarität und Offenheit in der Stadt zu fördern. Veränderungsprozesse lassen sich miteinander und füreinander gestalten. Veränderung kann dann befreiend sein.

Wir bedanken uns bei unseren Unterstützer*innen wie auch bei unseren Kritiker*innen. Bleiben Sie alle gesund!


Kundgebung für die Umbenennung des Nettelbeckufers in Gert-Schramm-Ufer

13.10.2020, 16-18 Uhr, auf dem Fischmarkt

Am 13.10. gehen wir wieder auf die Straße.
Die Fraktionen CDU, FDP und Freie Wähler/Piraten haben eine Beschlussvorlage eingereicht, die die Neubenennung einer Straße nach Gert Schramm sowie die Errichtung einer Informationstafel am Nettelbeckufer vorsieht.
Straßennamen sind Ehrungen. Die Beschlussvorlage der Fraktionen CDU, FDP und Freie Wähler/Piraten führt den Sinn dieser Ehrung ad absurdum. Eine Informationstafel, die Nettelbeck als das was er ist – ein Versklavungshändler, Koloniallobbyist und „Volksheld“ des deutschen Nationalismus – kritisch einordnet und damit zeigt das Nettelbeck eigentlich nicht geehrt gehört, entleert die Benennung ihres Sinnes.
Eine Neubenennung einer Straße nach Gert Schramm ist eine Ehrung zweiter Klasse: sie verweigert Gert Schramm die Straße, in der er geboren wurde, und praktiziert in dieser Form der Ehrung gerade nicht, wofür der Schwarze Buchenwald-Überlebende mit aller Kraft gekämpft hat: den Perspektivwechsel von den Täter*innen zu den Opfern.
Wir wollen eine Ehrung, die Schwarze Menschen auch in der Erinnerungskultur als gleichberechtigte Mitglieder der Gesellschaft anerkennt.


Unterstützungsbrief für die Umbenennugskampagne

32 Persönlichkeiten der Erfurter Stadtgesellschaft und des Freistaates Thüringen unterstützen die Forderung nach Umbenennung des Erfurter Nettelbeckufers in Gert-Schramm-Ufer

Straßennamen drücken das Selbstverständnis einer Gesellschaft aus. Personen, nach denen Straßen benannt werden, haben Vorbildfunktion und geben moralische Orientierung. Joachim Nettelbeck (1738 – 1824) war ein preußischer Seefahrer, der am transatlantischen Versklavungshandel beteiligt war, der versucht hat, drei preußische Könige zum Erwerb von Kolonien zu bewegen, und der als Verteidiger seiner Heimatstadt Kolberg zum nationalistischen „Volkshelden“ und Prototyp für die Militarisierung des deutschen Bürgertums wurde. Die Kolonialbewegung des Kaiserreichs erklärte ihn zu ihrem Vorläufer; im Nationalsozialismus wurde er zur Propagandaikone. Für eine Stadt, die sich als demokratisch, divers und weltoffen begreift, ist eine solche Person als Namensgeber einer Straße ungeeignet.

Dagegen steht der neue Namensgeber mit seinem Leben beispielhaft für das demokratische Versprechen von Freiheit, Gleichheit und Solidarität. Geboren 1928 als Sohn eines afroamerikanischen Ingenieurs und einer deutschen Näherin wurde Gert Schramm, weil er Schwarz war, von den Nazis in das Konzentrationslager Buchenwald verschleppt. Er überlebte dank der Hilfe seiner kommunistischen Mithäftlinge. In der DDR lag er im Dauerzwist mit der Parteibürokratie. Nach 1989 reiste Schramm als Zeitzeuge durch die Republik, mehrfach auch nach Erfurt, um gegen das Vergessen und den um sich greifenden Rechtsextremismus anzukämpfen. Im Jahr 2014, zwei Jahre vor seinem Tod, wurde er mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.

Wir unterstützen die Forderung von „Decolonize Erfurt“ und der „Initiative Schwarze Menschen in Deutschland“ nach einer Umbenennung des Nettelbeckufers in Gert-Schramm-Ufer. Fünfundsiebzig Jahre nach der Befreiung von Auschwitz und Buchenwald und über einhundert Jahre nach dem Ende des Deutschen Kolonialreichs ist es an der Zeit, dass in Erfurt erstmals eine Straße nach einem Schwarzen Menschen benannt wird.

Gert Schramm wurde nicht irgendwo geboren, sondern am Erfurter Nettelbeckufer 15. Angesichts dieser Tatsache und in Anbetracht des Zusammenhangs, der zwischen beiden Personen besteht – Schramms Vorfahren wurden Opfer eben jenes transatlantischen Versklavungshandels, an dem Nettelbeck beteiligt war –, halten wir es für zwingend, nicht irgendeine Straße in Erfurt nach Gert Schramm zu benennen, sondern das Nettelbeckufer nach ihm umzubenennen.

Wir schließen uns „Decolonize Erfurt“ und der „Initiative Schwarze Menschen in Deutschland“ auch in der Aufforderung an die Stadt an, die Belastungen für die Anwohner*innen so gering wie möglich zu halten und eine Gedenkstele zu errichten, die über die Geschichte der Straße und ihre Namensgeber aufklärt. Eine Straße umzubenennen heißt gerade nicht, deren Geschichte auszulöschen, sondern diese Geschichte aus der Perspektive demokratischer Werte neu zu erzählen.

Unterzeichner*innen

  • Dr. Wolfgang Beese (SPD, Vorsitzender Kulturausschuss des Erfurter Stadtrats und Organisator Fête de la Musique)
  • Rüdiger Bender (Vorsitzender Förderkreis Erinnerungsort Topf & Söhne e.V.)
  • Clueso (Musiker)
  • Lelah Ferguson (Kunstpraxis, Universität Erfurt)
  • Prof. Dr. Michael Haspel (Martin-Luther-Institut, Universität Erfurt)
  • Madeleine Henfling (Parlamentarische Geschäftsführerin der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN im Thüringer Landtag)
  • Susanne Hennig-Wellsow (Vorsitzende DIE LINKE Thüringen und Vorsitzende der Fraktion DIE LINKE im Thüringer Landtag)
  • Prof. Dr. Omar Kamil (Geschichte Westasiens, Universität Erfurt und Kuratoriumsmitglied Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora)
  • Prof. Dr. Achim Kemmerling (Direktor der Willy Brandt School of Public Policy, Universität Erfurt)
  • Prof. Dr. Bernhard Kleeberg (Wissenschaftsgeschichte, Universität Erfurt)
  • Dr. Tobias J. Knoblich (Beigeordneter für Kultur und Stadtentwicklung der Landeshauptstadt Erfurt)
  • Diana Lehmann (MdL und stellvertretende Vorsitzende im Landesverband der SPD Thüringen)
  • Suleman Malik (Sprecher der Ahmadiyya-Gemeinde Thüringen)
  • Eugen Mantu (Solocellist, Theater Erfurt)
  • Prof. Dr. Jürgen Martschukat (Nordamerikanische Geschichte, Universität Erfurt)
  • Prof. Dr. Bettine Menke (Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft, Universität Erfurt)
  • Guy Montavon (Generalintendant, Theater Erfurt)
  • José Paca (Vorsitzender Ausländerbeirat der Landeshauptstadt Erfurt)
  • Prof. Dr. Christine Rehklau (Diversität und Interkulturelle Soziale Arbeit, Fachhochschule Erfurt)
  • Prof. Dr. Hartmut Rosa (Direktor des Max-Weber-Kollegs, Universität Erfurt)
  • Uwe Roßbach (DGB Stadtverbandsvorstand Erfurt)
  • Astrid Rothe-Beinlich (Vorsitzende der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN im Thüringer Landtag)
  • Prof. Dr. Jörg Rüpke (Stellvertretender Direktor des Max-Weber-Kollegs, Universität Erfurt)
  • Prof. Dr. Kai Uwe Schierz (Direktor Kunstmuseen der Landeshauptstadt Erfurt)
  • Prof. Dr. Sabine Schmolinsky (Mittelalterliche Geschichte, Universität Erfurt)
  • Prof. Dr. Reinhard Schramm (Vorstandsvorsitzender Jüdische Landesgemeinde Thüringen)
  • PD Dr. Annegret Schüle (Oberkuratorin Erinnerungsort Topf & Söhne – Die Ofenbauer von Auschwitz)
  • Dirk Teschner (Kurator, DIE VIELEN Erfurt)
  • Prof. Dr. Alexander Thumfart (Politische Theorie, Universität Erfurt)
  • Prof. Dr. Jens-Christian Wagner (Direktor Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora)
  • Sandro Witt (Vorsitzender DGB Thüringen und Vorstandsvorsitzender Mobit e.V.)
  • Lutz Zieger (Geschäftsführer CVJM Erfurt)

ZUM STAND DER UMBENENNUNGSKAMPAGNE

Am 13.10.2020 kommt es im Ausschuss für Bildung und Kultur des Erfurter Stadtrates zur Entscheidung über die Umbenennung des Nettelbeckufers in Gert-Schramm-Ufer. Die Fraktionen von CDU, FDP und Freien Wählern/Piraten haben eine Beschlussvorlage eingereicht, die die Neubenennung einer Straße nach Gert Schramm sowie die Errichtung einer Informationstafel am Nettelbeckufer vorsieht.

Diesen Vorschlag können und wollen wir nicht unterstützen. Auch die Stadtverwaltung hat in einer Stellungnahme bereits deutlich gemacht, dass sie die Beschlussvorlage ablehnt. Beide Dokumente finden sich unter 6.2 im Bürgerinformationssystem.

Die Beschlussvorlage von CDU, FDP und Freie Wähler/Piraten ist inhaltlich aus zwei Gründen inakzeptabel:

  1. Sie führt die Institution des Straßennamens ad absurdum. Straßennamen sind Ehrungen; zu den Namensschildern hinzuzufügen, dass der Geehrte eigentlich nicht geehrt gehört, entleert die Benennung ihres Sinnes. Ein solcher Umgang mit öffentlichen Institutionen ist unverantwortlich und schadet der Demokratie.
  2. Es ist zu begrüßen, dass den drei Stadtratsfraktionen an einer Ehrung von Gert Schramm gelegen ist. Was die Beschlussvorlage vorsieht, ist jedoch eine Ehrung zweiter Klasse: Sie verweigert Gert Schramm die Straße, in der er geboren wurde, und praktiziert in der Form der Ehrung gerade nicht, wofür der Schwarze Buchenwald-Überlebende mit aller Kraft gekämpft hat: den Perspektivwechsel von den Täter*innen zu den Opfern. Wir wollen eine Ehrung, die Schwarze Menschen auch in der Erinnerungskultur als gleichberechtigte Mitglieder der Gesellschaft anerkennt.

Die Fraktionen von Die Linke, Bündnis 90/Die Grünen und Mehrwertstadt haben gestern einen Änderungsantrag eingereicht, der mit uns abgestimmt ist. Der Änderungsantrag sieht die Umbenennung des Nettelbeckufers in Gert-Schramm-Ufer und die Errichtung einer Gedenkstele vor, die über Joachim Nettelbeck, Gert Schramm und die Geschichte der Straße informiert. Wir dokumentieren den Antrag hier.


Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora unterstützt Forderung nach Umbenennung des Erfurter Nettelbeckufers in Gert-Schramm-Ufer

Gert Schramm am ehemaligen Bahnhof des KZ Buchenwald, Foto: Barbara Hartmann, München

Am 13.10.2020 wird es im Kulturausschuss des Erfurter Stadtrates zu einer Entscheidung über die Umbenennung des Nettelbeckufers in Gert-Schramm-Ufer kommen. Der neue Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, Prof. Dr. Jens-Christian Wagner, unterstützt die Umbenennungsforderung von Decolonize Erfurt und der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland „mit Nachdruck“. Er hat den beiden Initiativen folgende Unterstützungsbotschaft zukommen lassen:

„Die Benennung einer Straße nach einem Koloniallobbyisten und Steuermann von Versklavungsschiffen ist im Jahre 2020 wirklich nicht mehr tragbar. Und wer wäre als neuer Namensgeber für das Nettelbeckufer besser geeignet als Gert Schramm, der selbst dort geboren wurde? Als Nachkomme versklavter Schwarzer überlebte er das KZ Buchenwald und ist heute eine Symbolfigur für Freiheit, Gleichheit und Antirassismus.“

Die beiden Initiativen hoffen, dass das Wort der Stiftung nicht nur in der Erfurter Stadtgesellschaft, in Thüringen und in der Welt Gewicht hat, sondern auch bei den Erfurter Stadträt*innen, die am 13.10.2020 über die Umbenennung entscheiden. Die Umbenennung, so Mirjam Elomda von der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland, biete der Landeshauptstadt die Chance, neue Wege in der Erinnerungskultur einzuschlagen und zu zeigen, dass sie Schwarze Menschen als gleichberechtigte Mitglieder der Gesellschaft würdigt.


Eröffnung der Ausstellung: Breaking the Silence – Der Zorn des Mdachi bin Sharifu

30.09.2020, 19-21 Uhr, Kleine Synagoge, An der Stadtmünze 4, Erfurt

Am 21. September 1919 hielt der aus dem heutigen Tansania stammende Kishwahili-Lektor Mdachi („der Deutsche“) bin Sharifu im Erfurter Kaisersaal einen Vortrag über „Unsere koloniale Vergangenheit“. Eingeladen hatten ihn die „Deutsche Friedensgesellschaft“ und der pazifistische „Bund Neues Vaterland“.

Sharifus Vortrag in Erfurt war Teil einer Rundreise, die ihn im Sommer 1919 neben mehreren Vorträgen in Berlin auch nach Hamburg und Cottbus führte. Kurz vor Abschluss der Versailler Friedensverhandlungen hatte Sharifu eine Petition unterzeichnet, die vom Berliner U-Bahn-Zugführer Martin Dibobe initiiert worden war. Die Petition, die sich an die Weimarer Nationalversammlung richtete, forderte „Gleichberechtigung“ für alle Afrodeutschen – und zwar im gesamten Reich, d.h. sowohl in den Kolonien als auch auf europäischem Boden.

Die Ausstellung von Berlin Postkolonial macht diese Zusammenhänge sichtbar und entreißt den frühen afrodeutschen Aktivismus dem Vergessen. Vom 2. Oktober 2020 bis 16. Januar 2021 wird „Breaking the Silence“ in der Kleinen Synagoge in Erfurt zu sehen sein.

Eröffnet wird die Ausstellung am 01. Oktober 2020 (19 Uhr) mit einer Diskussionsrunde. Sprechen werden:
– Mnyaka Sururu Mboro und Christian Kopp (Berlin Postkolonial),
– Jose Paca (Vorsitzender Ausländerbeirat der Landeshauptstadt Erfurt) und
– Rebekka Schubert (Erinnerungsort Topf & Söhne).

Die Ausstellung ist eine Kooperation der Erfurter Geschichtsmuseen, der Landeszentrale für politische Bildung Thüringen, der Rosa Luxemburg Stiftung Thüringen, der ISD Thüringen und Decolonize Erfurt.

Wir bitten zu beachten, dass die Teilnehmer*innenzahl bei der Ausstellungseröffnung aufgrund der noch bestehenden Kontaktbeschränkungen begrenzt ist und dass es zu kurzfristigen Programmänderungen kommen kann. Es gelten die einschlägigen Hygieneregeln. Eine Anmeldung zur Eröffnung wird erbeten per Mail: kleinesynagoge@erfurt.de


Interkulturelle Woche: Dekolonialer Stadtrundgang mit Decolonize Erfurt

30.09.2020, 18-20 Uhr, Treffpunkt: Kleine Synagoge, An der Stadtmünze 4, Erfurt

Wir sind Teil der Interkulturellen Woche 2020!

Anlässlich der Eröffnung der Ausstellung „Breaking the Silence – Der Zorn des Mdachi bin Sharifu“ werden wir am Mittwoch, den 30. September 2020, einen Dekolonialen Stadtrundgang veranstalten. Los geht’s am Ausstellungsort, der Kleinen Synagoge, um 18 Uhr.

Sprechen werden wir über Erfurts koloniale Vergangenheit, Mdachi bin Sharifu und was er mit dem Erfurter Kaisersaal zu tun hat, die sogenannte Südseesammlung, welche sich in Erfurt befindet, über die Bedeutung des M-Wortes und noch Vieles mehr. Ihr seid herzlich eingeladen!

Und wer sich fragt um welche Ausstellung es hier gehen könnte, schaut am Tag darauf hier vorbei: Eröffnung der Ausstellung: Breaking the Silence – Der Zorn des Mdachi binSharifu

„Breaking the Silence“ wird noch bis 16. Januar 2021 in der Kleinen Synagoge zu sehen sein. Die Ausstellung wurde entwickelt von Berlin Postkolonial und ist nun in Kooperation der Erfurter Geschichtsmuseen, der Landeszentrale für politische Bildung Thüringen, der Rosa Luxemburg Stiftung Thüringen, der ISD Thüringen und uns, Decolonize Erfurt, endlich auch in Thüringen zu sehen.


Summer Talk vorm Schauspielhaus: Schwarze Häftlinge in Konzentrationslagern. Das Beispiel Gert Schramm

16.09.2020, 16-19 Uhr, KulturQuartier Schauspielhaus, Klostergang 4

Über die Lebenswege Schwarzer Häftlinge in Konzentrationslagern ist noch wenig bekannt. Nach einer Recherche von Julia Okpara über „Schwarze Häftlinge und Kriegshäftlinge in deutschen Konzentrationslagern“ aus dem Jahr 2004 konnten 34 Schwarze zivile Häftlinge nachgewiesen werden, die aus unterschiedlichen Haftgründen in ein KZ eingeliefert wurden. Die Haftgründe waren unterschiedlich, politische und rassistische Motive überlagerten sich. In einem Fall reichte ein Schuhkauf ohne Bezugsschein zur KZ-Inhaftierung.

Einer dieser Häftlinge war der Erfurter Gert Schramm. 1928 im Erfurter Nettelbeckufer geboren, wurde Gert Schramm mit 14 Jahren von der Gestapo ins Konzentrationslager Buchenwald verschleppt. Sein einziges Vergehen: Seine Hautfarbe. Er überlebte dank der Unterstützung anderer politischer Häftlinge. Nach 1989 engagierte er sich in den Gremien der Stiftung Gedenkstätte Buchenwald und trat als Zeitzeuge auf, um gegen das Vergessen und den um sich greifenden Rechtsextremismus anzukämpfen. Im Jahr 2014, zwei Jahre vor seinem Tod, wurde er mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. In seiner derzeit leider vergriffenen Autobiografie „Wer hat Angst vorm Schwarzen Mann“ schildert Gert Schramm seine Erlebnisse. In Erfurt gibt es derzeit eine kontroverse Debatte um die Initiative von Decolonize Erfurt, das Nettelbeckufer in Gert Schramm-Ufer umzubenennen.

Programm:

16-17 Uhr
Das Jugendforum spricht im Radio-Talk über Gert Schramm, seine Geschichte und sein Engagement und welche Aktualität diese heute haben.

17-19 Uhr
Nach einer Lesung aus der Autobiografie von Gert Schramm durch Vertreterinnen von Decolonize Erfurt wollen wir mit Rikola-Gunnar Lüttgenau (Gedenkstätte Buchenwald) über Gert Schramm und die Verfolgung Schwarzer Menschen im Nationalsozialismus sprechen.

Die Veranstaltung ist eine Zusammenarbeit des Jugendforums Erfurt bei Radio F.R.E.I. mit der Landeszentrale Politische Bildung Thüringen und dem KulturQuartier.


Die Umbenennung – Zahlen und Fakten

Schluss mit der Angstpropaganda! Zu den tatsächlichen Kosten und Aufwänden einer Umbenennung des Erfurter Nettelbeckufers in Gert-Schramm-Ufer

In der Debatte um die Umbenennung des Erfurter Nettelbeckufers in Gert-Schramm-Ufer wird von den Gegner*innen der Umbenennung immer wieder auf vermeintliche Kosten und Aufwände verwiesen. Die AfD verkündet in einem Flyer, auf jede* Anwohner*in würden Kosten in Höhe von ca. 75 Euro zukommen. Der Vorsitzende der CDU-Stadtratsfraktion Michael Hose behauptet in der Thüringer Allgemeinen, Ausweise müssten kostenpflichtig geändert werden und spricht von „nicht unerheblichen“ Belastungen für alle Anlieger*innen. Schließlich warnen zwei Anwohner*innen in einem Unterschriftenbrief an den OB vor einem „materiellen, finanziellen und physischen Aufwand“, der „einfach nicht zumutbar und auch nicht verhältnismäßig“ sei und führen u.a. notwendige Mitteilungen an die Stadtwerke, das Finanzamt oder Telekommunikationsunternehmen sowie Grundbuchänderungen an.

Dr. Urs Lindner von Decolonize Erfurt: „Wir denken, Politik sollte nicht auf Grundlage von Mutmaßungen, Gerüchten oder ‚alternativen Fakten‘ betrieben werden, sondern auf Basis von gesichertem Wissen. Nur so ist eine ernsthafte und sachliche Debatte möglich.“ Deshalb haben die Initiative Schwarze Menschen in Deutschland und Decolonize Erfurt den Leiter der Straßennamenskommission und des Amtes für Geoinformation und Bodenordnung, Dr. Torben Stefani, um offizielle Auskunft gebeten.

Durch die Auskunft von Dr. Stefani, die hier dokumentiert ist, sehen die beiden Initiativen ihre bisherige Argumentation in dieser Frage bestätigt. Kosten und Aufwände bleiben für die Anwohner*innen überschaubar; sie sind als Beitrag zur Erinnerung an zwei Menschheitsverbrechen (Kolonialismus und NS) sowohl zumutbar als auch verhältnismäßig.

  • Für die Stadt fallen an bezifferbaren Kosten für Straßenschilder circa 1.200 Euro an. Bei den hinzukommenden Äquivalenten für Arbeitsstunden ist unklar, ob sie überhaupt in den fünfstelligen Kostenbereich reichen. Falls ja, dürften sie im unteren fünfstelligen Bereich bleiben.
  • Die durchschnittlichen Anwohner*innen müssen einmal zum Bürgeramt gehen, um die Adresse auf dem Personalausweis ändern zu lassen, und die Adressänderung individualisierten Kontakten mitteilen. Wenn sie Halter*innen eines Fahrzeuges sind, muss zusätzlich die Zulassungsbescheinigung geändert werden, wofür Gebühren in Höhe von 11,10 Euro anfallen. Anders als von Michael Hose behauptet, ist in Erfurt die Änderung im Personalausweis bei einer Straßenumbenennung kostenlos. Die Mitteilung der Adressänderung an große Versorger wie Stadtwerke, Telekom, Post, E.ON etc. bzw. an Behörden wie das Finanzamt oder die Agentur für Arbeit übernimmt die Stadt. Der Mitteilungsaufwand für die Anwohner*innen liegt damit deutlich unter demjenigen, der bei einem Umzug anfällt.
  • Den Datenaustausch mit dem Grundbuchamt übernimmt ebenfalls die Stadt.
  • Einzig für die wenigen Gewerbetreibenden am Nettelbeckufer sowie die Schule scheinen Kosten und Aufwände nicht klar absehbar.

Dr. Urs Lindner von Decolonize Erfurt: „Das Fazit der Auskunft von Dr. Stefani kann nur lauten: Schluss mit der Angstpropaganda! Für demokratische Akteure, die an Fakten interessiert sind, kann der Verweis auf Kosten und Aufwände spätestens jetzt nicht mehr als ernsthaftes Argument in der öffentlichen Debatte um die Umbenennung des Nettelbeckufers gelten.“ Sollten für die wenigen Gewerbetreibenden größere Belastungen entstehen, sei die Stadt mit einem Härtefallfonds gefragt, genauso wie bei speziellen Umständen von Anwohner*innen.


25 Jahre Deserteurdenkmal sind 109 Jahre Nettelbeckufer zu viel!

01.09.2020, 15-17 Uhr, auf dem Fischmarkt

25 Jahre Deserteurdenkmal sind 109 Jahre Nettelbeckufer zu viel! Erfurt braucht eine vielfältige Erinnerungskultur.

Am 1. September 2020 jährt sich die Einweihung des Deserteurdenkmals am Erfurter Petersberg zum 25sten Mal. Gewidmet ist das vom Erfurter Künstler Thomas Nicolai und jungen Bahnarbeitern errichtete Denkmal, wie es auf der zugehörigen Bronzetafel heißt, „Dem unbekannten Wehrmachtsdeserteur – Den Opfern der NS-Militärjustiz – Allen die sich dem Naziregime verweigerten“. Im Besonderen werden mit ihm die rund 50 Deserteure geehrt, die während des 2. Weltkriegs auf dem Petersberg zum Tode verurteilt wurden.

Als 1994 die Idee aufkam, in Erfurt ein Deserteurdenkmal zu errichten, stieß sie zunächst auf massiven Widerstand. Die CDU versuchte das Denkmal mit allen Mitteln zu verhindern; ein leitendes Mitglied der Stadtverwaltung verbreitete geschichtsrevisionistische Ansichten über die Wehrmacht. Weil die Erfurter Zivilgesellschaft Druck machte und es prominente Unterstützung von außen gab, konnte das Vorhaben umgesetzt werden. Heute gehört das Deserteurdenkmal ganz selbstverständlich zum Erfurter Stadtbild und ist Teil der lokalen Erinnerungskultur.

Im März 2020 haben die Initiative Schwarze Menschen in Deutschland und Decolonize Erfurt eine Kampagne zur Umbenennung des Erfurter Nettelbeckufers in Gert-Schramm-Ufer gestartet. Zwischen dem Deserteurdenkmal und dem Umbenennungsvorhaben gibt es mehrere Verbindungen. Joachim Nettelbeck (1738-1824) war nicht nur am transatlantischen Versklavungshandel beteiligt und hat sich als Koloniallobbyist betätigt, er wurde durch die Verteidigung Kolbergs 1807 gegen Napoleon auch zu einer identitätsstiftenden Figur des deutschen Nationalismus. Um die „nationale Ehre“ zu retten, hat er seine Heimatstadt Kolberg in militärisch aussichtsloser Lage mit Durchhalteterror überzogen und allen Kapitulationswilligen mit Exekution gedroht. Nettelbeck war ein ideologischer Wegbereiter der nazistischen Deserteursmorde. Joseph Goebbels und seine Propagandaschergen mussten ihn nicht „instrumentalisieren“. Sie fanden bei ihm genau das, was sie suchten: einen „Volkshelden“ für den „totalen Krieg“.

Gert Schramm (1928-2016) wiederum, der Schwarze Überlebende des KZ Buchenwalds und Bundesverdienstkreuzträger, saß im Sommer 1943 für zwei Monate im Gestapogefängnis auf dem Erfurter Petersberg. Damit nicht genug, auch die Art und Weise, wie 1994/5 über das Deserteurdenkmal und wie 2020 über die Umbenennung des Nettelbeckufers gestritten wird, ähnelt sich.

Nettelbecks Durchhalteterror, die NS-Militärjustiz auf dem Petersberg und der heutige, auch in Erfurt präsente Alltagrassismus haben eine gemeinsame Wurzel: die Idee und Wirkungsweise der „Volksgemeinschaft“. Je nach Situation nimmt dieses Konstrukt unterschiedliche Gestalten an. Heutzutage vermischen sich in der Idee der „Volksgemeinschaft“ Antisemitismus, anti-muslimischer und anti-schwarzer Rassismus sowie andere Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit.

Es ist höchste Zeit, der Wahnvorstellung einer „Volksgemeinschaft“ und der von ihr ausgehenden Gewalt konsequent entgegenzutreten. Gerade in einer Stadt wie Erfurt, die in ihrer Mehrheit demokratisch und weltoffen sein will. Dazu gehört eine vielfältige Erinnerungskultur – eine Kultur, die das Gedenken an die Opfer von NS und Kolonialismus miteinander verbindet.


Lesung aus Gert Schramms Autobiographie: „Wer hat Angst vorm Schwarzen Mann“

05.08.2020, 19 Uhr, auf dem Gelände des CVJM Erfurt (Magdeburger Allee 46)

1928 im Erfurter Nettelbeckufer geboren, wurde Gert Schramm mit 14 Jahren von der Gestapo ins Konzentrationslager Buchenwald verschleppt. Sein einziges Vergehen: Seine Hautfarbe.

Er überlebte und schwor am 19. April 1945 gemeinsam mit anderen Buchenwalder Antifaschisten: „Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung. Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel.“ Nach 1989 reiste er als Zeitzeuge durch die Republik, mehrfach auch nach Erfurt, um gegen das Vergessen und den um sich greifenden Rechtsextremismus anzukämpfen. Im Jahr 2014, zwei Jahre vor seinem Tod, wurde er mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.
Seine Worte leben weiter. In seiner Autobiografie „Wer hat Angst vorm Schwarzen Mann“ schildert Gert Schramm seine Erlebnisse und lässt uns teilhaben an den Erfahrungen, welche ihm als Schwarzer Deutscher widerfahren mussten.

Wir laden ein zur Lesung aus Gert Schramms Autobiographie: „Wer hat Angst vorm Schwarzen Mann“ am Mittwoch, den 5. August 2020, 19 Uhr, auf dem Gelände des CVJM Erfurt (Magdeburger Allee 46)

Bitte mitbringen: Picknickdecken, Sitzkissen oder Klappstühle, wir werden es uns auf einer Wiese gemütlich machen!

Hygienehinweis: Bitte achtet auf ausreichend Abstand zu euren Mitmenschen und tragt einen Mund-Nase-Schutz, wo dieser nicht gewahrt werden kann.

Eine Kooperation der Initiative Schwarze Menschen Deutschland (ISD-Bund e.V.), Decolonize Erfurt und des Christlichen Vereins Junger Menschen (CVJM Erfurt e.V.)


Für die Umbenennung des Nettelbeckufers in Gert-Schramm-Ufer

11.07.2020, 14-16 Uhr, auf dem Fischmarkt

Vor kurzem haben wir eine Informationsveranstaltung zur Umbenennungskampagne des Erfurter Nettelbeckufers in Gert-Schramm-Ufer an der Karlsbrücke in der Nähe des Nettelbeckufers abgehalten. Zur Kundgebung für die Umbenennung des Nettelbeckufers in Gert-Schramm-Ufer zeigen wir noch einmal die Plakate und Ausstellungsstücke der vergangenen Informationsveranstaltung und laden alle Interessierten ein, mit uns über die Umbenennung des Nettelbeckufers ins Gespräch zu kommen.


Informationsveranstaltung zum Umbenennungsvorhaben

20.06.2020, 14:00-18:00 Uhr, Am Lutherdenkmal an der Lutherschule, Ecke Karlstraße – Adalbertstraße

Derzeit finden weltweit Proteste gegen Rassismus und Polizeigewalt statt. Auch in Erfurt braucht es einen antirassistischen Konsens. Es gibt keine Gerechtigkeit ohne symbolische Gerechtigkeit. Versklavungshandel und Kolonialismus dürfen nicht länger im öffentlichen Raum geehrt werden – weder in Bristol noch in Erfurt.

Die Initiative Schwarze Menschen in Deutschland und Decolonize Erfurt laden die Anwohner*innen und die Stadtgesellschaft zu einer Informationsveranstaltung ein, um miteinander über die Umbenennung des Nettelbeckufers in Gert-Schramm-Ufer zu reden.
Zahlreiche spannende Gäste haben zugesagt, mit uns zu diskutieren.
Zeitplan:

  • 14.00: Start: Vorstellung der Umbenennungsinitiative, danach Diskussionsrunden mit:
  • 14.15: Rüdiger Bender (Vorsitzender des Förderkreises Erinnerungsort Topf & Söhne e.V.) und Jose Paca (Vorsitzender des Ausländerbeirats der Landeshaupstadt Erfurt und des Dachverbandes der Migrant*innenorganisationen in Ostdeutschland (DaMOst))
  • 14.45: Nora Abra (Erfurter Schülerin)
  • 15.15: Dr. Tobias J. Knoblich (Kulturdezernent der Landeshauptstadt Erfurt)
  • 15.45: Peter Reif-Spirek (Stellvertretender Leiter der Landeszentrale für politische Bildung Thüringen)
  • 16:15: Dr. Torben Stefani (Leiter der Straßennamenkommission der Landeshauptstadt Erfurt)



Neue Infobroschüre: „Das Nettelbeckufer und Erfurts koloniales Erbe: Aufarbeitung oder Verdrängung“

In der folgenden Broschüre der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland und Decolonize Erfurt wird noch einmal erklärt, warum Nettelbeck als Namensgeber einer Straße in Erfurt untragbar ist. Wir erklären worum es bei Straßennamen geht, zeigen Nettelbecks Verstrickung in den Versklavungshandel, seinen Koloniallobbyismus und welche Rolle er bei der Verteidigung Kolbergs gespielt hat.

Gert Schramm ist der ideale neue Namensgeber für das Nettelbeckufer. Die Umbenennung des Nettelbeckufers kann in Erfurt für eine neue „multidirektionale“ Erinnerungskultur stehen, die das Gedenken an drei deutsche Unrechtsregime verbindet.



Wissenschaftliches Gutachten zur Umbenennung des Erfurter Nettelbeckufers in Gert-Schramm-Ufer

Das folgende Gutachten der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland und der Initiative Decolonize Erfurt stützt die Forderung nach Umbenennung des Erfurter Nettelbeckufers in Gert-Schramm-Ufer wissenschaftlich ab. Die 13-seitige Stellungnahme wurde von drei Wissenschaftler*innen der Universität Erfurt und der TU Braunschweig verfasst; sie ist die erste kritische Auseinandersetzung mit Joachim Nettelbeck (1738-1824), die in die Tiefe geht. Herausgearbeitet wird die Gewalt, die mit Nettelbecks Position als Obersteuermann auf niederländischen Versklavungsschiffen verbunden war, was genau seine drei Vorschläge zum preußischen Kolonialerwerb umfassten und wie er zum „Volkshelden“ des deutschen Nationalismus wurde.

Mit Gert Schramm (1928-2016) steht ein neuer Namensgeber für die Straße bereit, der über jeden Zweifel erhaben ist. Mit seiner Geburt am Nettelbeckufer verfügt er über den denkbar stärksten Lokalbezug. Seine Person hat Vorbildcharakter und verkörpert die demokratischen Werte von Freiheit, Gleichheit und Solidarität. Darüber hinaus besteht eine direkte Verbindung zwischen altem und neuem Namensgeber: Gert Schramms Vorfahren väterlicherseits wurden innerhalb eben jenes transatlantischen Versklavungshandels verschleppt, an dem Nettelbeck aktiv beteiligt war.



Decolonize Erfurt und ISD Thüringen antworten (Teil 2)

Demokratie ist ein Streit, der mit Argumenten geführt wird. Im Zuge unserer Kampagne zur Umbenennung des Erfurter Nettelbeckufers in Gert-Schramm-Ufer beantworten wir alle Einwände, die wir für diskutierbar halten, mit Gegenargumenten. Nachdem die Einwände beim ersten Mal noch sehr allgemein waren, sind sie diesmal spezifischer.

1) „Jeder hat eine Leiche im Keller. Nehmen wir Martin Luther, der war ein glühender Antisemit. Sollen wir jetzt etwa auch alle Lutherstraßen umbenennen? Ihr seid inkonsequent, wenn Ihr einerseits das Nettelbeckufer umbenennen wollt und andererseits eine Veranstaltung in der Lutherkirche abhaltet.“

Wenn es um die Bewertung historischer Persönlichkeiten geht, ist ein einfaches Gut-Böse-Schema, wie in vielen anderen Fragen auch, verfehlt. Dennoch gibt es qualitative Unterschiede. Luther war zweifelsohne ein Antisemit, und er hat auch mit den Fürsten gemeinsame Sache gegen die Bauern gemacht. Gleichzeitig war er ein Revolutionär. Er hat die Bibel ins Deutsche übersetzt und die Kirchenhierarchie angegriffen. Sola fide, allein der Glaube zählt! Evangelische Christ*innen inspiriert Luther bis zum heutigen Tag; sie verehren ihn nicht wegen, sondern trotz seines Antisemitismus. Atheist*innen sehen ihn in der Regel als ambivalent. Bei Nettelbeck verhält sich die Sache anders. Er ist eine eindeutig negative historische Figur. Er steht für Versklavungshandel, Kolonialismus, Nationalismus und Militarismus. Bei Straßennamen kommt es immer auf das Gesamtbild an: Nur wenn dieses eindeutig negativ ist, sind Umbenennungen sinnvoll. Da wir Luther im Unterschied zu Nettelbeck nicht als eindeutig negative historische Figur betrachten, lassen wir uns z.B. auch gerne von der Evangelischen Kirchengemeinde Martini-Luther in Erfurt beherbergen. (Danke nochmals an dieser Stelle!) Als Initiativen, die sich gegen gruppenspezifische Menschenfeindlichkeit engagieren, wissen wir es zudem zu schätzen, dass die evangelischen Landeskirchen Luthers Antisemitismus offen aufarbeiten.

2) „Es ist rassistisch, eine Straße nach jemandem zu benennen, weil er schwarz war.“

Wenn wir Gert Schramm als neuen Namensgeber des Nettelbeckufers vorschlagen, geht es uns um seine Verdienste als Person. Gert Schramm wurde ins KZ Buchenwald deportiert, weil er Schwarz war. Sein Schwarzsein hat ihn rassistische Strukturen auf grausamste Weise erfahren lassen. Seinem Umgang mit diesen Erfahrungen und seinem Kampf gegen den Rassismus gilt es zu gedenken und sie verdienen unsere Würdigung. Lange war es üblich, dass einzig weiße verdienstvolle Menschen gesellschaftlich sichtbar gemacht und geehrt wurden. Es ist nicht rassistisch, das Schwarz- oder Weißsein von Menschen zusammenhängend als soziale Konstruktion zu betrachten. In den Blick kommen dabei Erfahrungen und Privilegien, welche Personen aufgrund äußerer Merkmale zuteilwerden. Schwarzsein muss als ein politischer Begriff verwendet werden können. Rassistisch ist es dagegen, Menschen aufgrund äußerer Merkmale (z.B. Hauttönen oder Haaren) wesensmäßige unterschiedliche Charaktereigenschaften zuzuschreiben. Genau das tun wir nicht. Wir wollen, dass Gert Schramm als antifaschistischer Schwarzer Aktivist gewürdigt wird. Wir wollen, dass Erfurt auch verdienstvolle Schwarze Menschen ehrt und deren Lebensleistung anerkennt.

3) „Es ist undemokratisch, den Anwohner*innen kein Mitspracherecht über den Straßennamen einzuräumen. Ihr hättet, bevor Ihr Euren Umbenennungsvorschlag lanciert, die Anwohner*innen fragen müssen, ob sie so etwas wollen.“

Die Zuständigkeit, über die Namen öffentlicher Straßen zu entscheiden, liegt bei der Stadt, nicht bei den Anwohner*innen. Diese wählen wie alle anderen Bürger*innen von Erfurt den Stadtrat, der – sei es selbst oder im Kulturausschuss – über Straßennamen entscheidet. Deshalb richten wir uns an den Stadtrat, der aus demokratischen Wahlen hervorgegangen ist. Wir fragen also auch, aber nicht nur die Anwohner*innen. Heißt das, dass die Anwohner*innen überhaupt keine speziellen Ansprüche in dieser Angelegenheit hätten? In unseren Augen haben sie ein Recht darauf, über das Umbenennungsvorhaben und alle seine Implikationen umfassend informiert zu werden. Diesem Anspruch kommen wir mit aller uns zur Verfügung stehender Energie nach. Und sie haben ein Recht darauf, mit Aufwand und Kosten, welche eine Umbenennung mit sich bringt, nicht allein gelassen zu werden. Auch dafür setzen wir uns ein. Eine Maßnahme zur Herstellung historischer Gerechtigkeit muss auch der Form nach gerecht sein. Das beinhaltet, dass die Lasten, die sie mit sich bringt, gerecht verteilt werden.


Das Gert-Schramm-Ufer, Wege in und aus der Krise

Wegen der Corona-Virus-Krise mussten wir die für gestern – 26.03.2020 – geplante Informationsveranstaltung, in der wir unser Projekt zur Umbenennung des Erfurt Nettelbeck-Ufers in Gert-Schramm-Ufer vorstellen wollten, bis auf weiteres verschieben. Die Krise scheint uns unser Vorhaben nicht hinfällig zu machen, sondern seine Wichtigkeit zu unterstreichen. Warum dies so ist, wollen wir im Folgenden kurz zusammenzufassen.

Solidarität, Katastrophenkultur und Gedächtnis

Anfang der 1950er Jahre begannen Sozialwissenschaftler*innen in den USA das Verhalten von Menschen in Katastrophen empirisch zu untersuchen. In den USA selber, aber auch in Lateinamerika und Europa führten sie nach Erdbeben, Fluten aber auch nach Epidemien hunderte von Feldstudien durch. Sie wollten wissen, ob es nach Katastrophen zum gesellschaftlichen Zusammenbruch kommt, d.h. ob Menschen nicht nur in Massen-Paniken verfallen, sondern etwa auch zu plündern und ihre Nachbarn zu erschießen anfangen. Die Wissenschafter*innen kamen zu dem Ergebnis, das dies in den allermeisten Fällen nicht passiert. Stattdessen stellten sie fest, dass sich Menschen in großer Solidarität über soziale Grenzen hinweg helfen und dass genau aufgrund dieser Solidarität Gemeinschaften insgesamt mit Katastrophen recht gut zurechtkommen. Auch 70 Jahre später herrscht innerhalb der Katastrophenforschung wenig Zweifel daran, dass Solidarität im Angesicht von schwerwiegenden Krisen schlicht und ergreifend lebensnotwendig ist. Corona ist hier keine Ausnahme.

Schon in den 1960er Jahren bemerkten die Sozialwissenschaftler*innen, dass Krisen-Verhalten dort besonders ‚gut’, im Sinne von die destruktiven Konsequenzen der Katastrophe abmildernd ist, wo es eine „Katastrophen-Kultur“ gibt: will heißen, wo die Mitglieder einer Gemeinschaft relevantes Krisenwissen haben, das sie sich in vorherigen Katastrophen angeeignet und über Jahre hinweg im kollektiven Gedächtnis gespeichert haben. Zu diesem Wissen gehörte und gehört das Wissen um die Unabdingbarkeit von Solidarität.

Auch das Leben von Gert Schramm ist ein eindrücklicher Beleg, dafür dass Solidarität in Katastrophen nicht nur über Leben und Tod entscheidet, sondern auch für ein Überleben in Würde elementar ist. Zu denken ist hier nicht nur an seine Zeit in Buchenwald, sondern auch an das Leben in einer durch faschistische Gewalt und Krieg gebeutelten Dorfgemeinschaft, an seine Arbeit im Bergwerk oder an den gemeinschaftlich eigensinnigen Widerspruch gegen die SED. Gert-Schramm zu gedenken, indem eine Straße nach ihm benannt wird, ist darum ein Beitrag dazu, Solidarität in genau jenem Katastrophen-Gedächtnis zu verankern, das es heute und morgen zu aktivieren gilt – um Corona zu überstehen und nach Corona eine andere gesellschaftliche Ordnung aufzubauen, die nicht länger eine „permanente“ „chronische“, „langsame“, „strukturelle“ Katastrophe (um hier ein paar Konzepte aus der jüngeren Forschung zu anzuführen) für einen wesentlichen Teil der Menschheit darstellt.

Katastrophen, Rassismus und Kolonialismus

Diejenigen Menschen(gruppen), die nicht erst seit Corona in solchen „chronischen“ Katastrophen leben, sind gleichzeitig auch diejenigen, die jetzt von Corona – wie von anderen katastrophalen Ereignissen – besonders stark betroffen sind. Es sind dies nicht nur die in unseren Alten- und Pflegeheimen und obdachlos auf der Straße langsam und einsam Sterbenden. Es sind die allermeisten Menschen im Globalen Süden und solche, die im Globalen Norden leben und nicht-weiß sind. Wir sprechen hier von den Menschen in Europas Flüchtlingscamps und Asylbewerber*innen-Heimen, von den strukturellen Zusammenhängen von „race“, Armut und der sogenannten Krisen-„Vulnerabilität“, die die Katastrophenforschung seit den 1960er Jahren belegt hat. Wir beziehen uns aber auch auf die rassistischen Übergriffe, zu denen es in Krisenzeiten immer wieder kommt, und welche die oben gennannte Solidarität zersetzten. Auch solche sind in den letzten Corona-Wochen bereits in Deutschland zu beobachten gewesen.

In anderen Worten: Um Katastrophen in ihrer Wirkung verstehen und ihnen adäquat begegnen zu können, ist der analytische Blick auf Rassismus und auf globale Ungleichheit unverzichtbar, die ihre Herkunft wesentlich im Kolonialismus haben. Die antirassistische und dekoloniale Arbeit, die wir mit dem Umbenennungsprojekt verfolgen, zielt genau darauf.

Wir möchten darauf hinweisen, dass viele der katastrophalen Ereignisse, mit denen sich Menschen in den letzten 500 Jahren konfrontiert gesehen haben, von Kolonialismus und Rassismus nicht nur in ihrem Verlauf und ihren Konsequenzen beeinflusst worden sind, sondern damit auch ursächlich in Verbindung stehen. Dies nur schon, weil sie viel mit den menschengemachten Veränderungen der verschiedenen Sphären unseres Planeten zu tun haben, zu denen es in den letzten Jahrhunderten kam. Also z.B. mit dem Wandel des Klimas, der Beschaffenheit von Böden oder dem Bestand an Pflanzen und Tierarten.

Diese Veränderungen sind so massiv, dass Wissenschaftler*innen seit ein paar Jahrzehnten die geologische Epoche, in der wir leben, als „Anthropozän“ bezeichnen. Zu ihnen haben, wie die heutige Forschung betont, Kolonialismus und vor allem Plantagenwirtschaft und Sklaverei so entscheidend beigetragen, dass mittlerweile auch von einem „plantationocene“ gesprochen wird. Bekannte Folgen davon sind Dürren oder Fluten. Aber auch Epidemien wie Corona sind in ihrem Verlauf und Entstehen von Faktoren wie der Veränderungen z.B. der Biosphäre geprägt. Schließlich darf nicht vergessen werden, dass der Kolonialismus auch als Motor von Globalisierung zu ihrer Ausbreitung beigetragen hat.

Sklaverei und Kolonialismus zu ehren, indem deren Handlangern und Lobbyisten, wie Nettelbeck einer war, Straßennamen gewidmet bleiben, bedeutet auch, Ursachen unserer aktuellen Krisen zu huldigen. Dies blockiert genau jenes Umdenken, das erforderlich ist, um die kulturellen und strukturellen Veränderungen zu bewirken, die es Jetzt für heute und (ein) Morgen braucht.

Gegen Opferbereitschaft und Menschenverachtung

Was wir zum jetzigen Zeitpunkt (und auch sonst) nicht benötigen, sind totalitäre Praktiken und sowie deren ideologische Versatzstücke, für die Nettelbeck steht. Dies ist gerade deswegen zu betonen, weil es global, aber auch lokal nicht an Kräften mangelt, welche die jetzt im Ausnahmezustand eingeführten Beschneidungen von Rechten über diesen Zustand hinaus zu normalisieren bestrebt sein werden. Kräfte, für welche Corona auch als zusätzlich Legitimierung einer hochgradig zynischen Politik dient, in der die in ihrer Logik weniger „Nützlichen“, sowieso schon Entrechteten zum vermeintlichen (ökonomischen) Vorteil der Normgesellschaft der (vermeintlich) Produktiven, sterben gelassen werden sollen.

Nettelbecks Wirken in Kolberg steht für eine Militarisierung der Gesellschaft, für eine irrationale und mörderische Abwehrschlacht gegen einen überlegenen Feind, in welcher einzelne Individuen für ein vermeintliches „Gemeinwohl“ geopfert werden. Genau deshalb war Nettelbeck der Liebling von Joseph Goebbels. Dessen Sportpalastrede („Wollt Ihr den totalen Krieg?“) endet mit den Worten, mit denen Veit Harlans Propagandafilm „Kolberg“ beginnt, in dem Nettelbeck die Hauptfigur ist: „Nun, Volk, steh auf, und Sturm, brich los!“

Diese „Zusammenrücken“ der Volksgemeinschaft ist just das Andere der Solidarität, die Gert Schramm verkörpert. Einer Solidarität, deren moralisches Fundament das Wissen um die Gleichheit aller Menschen und um die Unantastbarkeit ihrer Würde ist. Diese Werte müssen wir auch in der gegenwärtigen Corona-Krise hochhalten. Z.B., indem wir uns jetzt dafür aussprechen, dass Gert Schramms Name auf einer der vielen Straßen steht, auf denen neue Wege aus der (permanenten) Katastrophe heraus beschritten werden können.


Antworten auf Fragen und Einwände zur Umbenennung des Nettelbeckufers in Gert-Schramm-Ufer

Gert Schramm am ehemaligen Bahnhof des KZ Buchenwald, Foto: Barbara Hartmann, München

Vor etwas mehr als einer Woche haben wir mit unserer Kampagne zur Umbenennung des Erfurter Nettelbeckufers in Gert-Schramm-Ufer begonnen. Seitdem hat uns viel Zuspruch erreicht, u.a. von Anwohner*innen, aber es gab auch Widerspruch.

Wir möchten die Gelegenheit nutzen, auf einige Fragen bzw. Einwände zu reagieren.

1) „Gibt es gerade keine wichtigeren Probleme, als eine Straße umzubenennen? Habt Ihr nichts Besseres zu tun? Euch ist nur langweilig.“

Die Umbenennung von Straßen ist ein kleiner, aber wichtiger Teil eines größeren gesellschaftlichen Wandels, für den wir uns einsetzen – eines Wandels, der unabdingbar ist, um mit den Krisen und Katastrophen umzugehen, mit denen wir (alle heutigen Bürger*innen, aber auch deren Kinder und Enkel) hier in Erfurt, in Deutschland und auf dem Planeten konfrontiert sind.
Der Corona-Virus ist eine dieser Krisen ebenso wie der rassistische Terror, der nicht nur unmittelbar tötet, sondern Demokratie und Rechtsstaatlichkeit bedroht; auch der Klimawandel gehört dazu. All diesen Krisen kann nur wirksam begegnet werden, wenn wir uns ihren Ursachen stellen. Und zu diesen Ursachen gehören maßgeblich Kolonialismus und Sklaverei, an denen Nettelbeck beteiligt war. Um die aktuellen Krisen und Katastrophen einzudämmen, ist es unumgänglich, kurzsichtigen Egoismus durch solidarisches Handeln, Menschlichkeit und Empathie zu ersetzen. Personen wie Gert Schramm können uns dabei als Orientierung dienen. Sprachliche Symbole (zum Beispiel Straßennamen) sind untrennbar mit unserem Denken und Handeln verbunden. Es bringt uns voran, uns mit anderen (Straßen-)Namen zu umgeben und uns dadurch diverserer Vorbilder zu bedienen.

2) „Geschichte lässt sich nicht rückgängig machen, wir müssen Straßennamen wie das Nettelbeckufer als Teil unserer Geschichte akzeptieren. So ein Blödsinn, Straßennamen gehören nicht politisiert.“

Nach dieser Logik gäbe es heute in Erfurt einen Adolf-Hitler-Weg und eine Josef-Stalin-Allee. Wir vermuten, dass außer ein paar hartnäckigen Nazis und Stalinos niemand in solchen Straßen leben möchte. Wir verstehen auch, dass manche Leute Sorge vor Veränderung haben. Es ist schmerzhaft und anstrengend, das Vertraute zu hinterfragen, gerade wenn es um Selbstverständlichkeiten wie die eigene räumliche Umgebung geht. Aber die aktuelle Corona-Situation zeigt: In nächster Zeit werden noch ganz andere Veränderungen auf uns zukommen als die Umbenennung von Straßen. Sie beinhalten auch Chancen, nämlich für ein solidarisches Miteinander und eine bessere Gesellschaft.

3) „Habt Ihr Euch denn überhaupt mal Gedanken gemacht über die Kosten, sowohl für die Stadt als auch für die Leute, die am Nettelbeckufer wohnen?“

Straßenumbenennungen sind nichts Ungewöhnliches und die Kosten für die Stadt überschaubar. Seit 1990 hat es in Erfurt rund 200 Straßenumbenennungen gegeben, die meisten von ihnen, um Mehrfachexistenzen von Straßennamen in verschiedenen Stadtteilen zu beseitigen. Wir haben mit Vertreter*innen der Stadt bereits Gespräche geführt, wie sich der finanzielle und logistische Aufwand für die Anwohner*innen minimieren lässt. In anderen Städten ist es durchaus üblich, dass bei Straßenumbenennungsvorhaben wie dem unsrigen z.B. die 10 Euro Gebühr für die Adressänderung auf dem Personalausweis erlassen werden. Es lässt sich organisieren, dass eine mobile Meldestelle in die Straße kommt, so dass niemand lästige Wartezeiten auf einem überfüllten Bürger*innenamt in Kauf nehmen muss. Wir werden alles dafür tun, damit der Aufwand für die Anwohner*innen so gering wie möglich bleibt.

4) Eine Facebook-Nutzerin schreibt: „Es leben im Nettelbeckufer einige Menschen bereits über 50 Jahre. Sie leben und lieben diese Straße. Und diesen Straßennamen den einige seit ihrer Kindheit kennen, soll nun umbenannt werden? Warum?“

Wir haben bereits im ersten Schreiben an die Anwohner*innen einige Gründe genannt, warum Joachim Nettelbeck als Namensgeber einer Straße ungeeignet ist. Hier nochmal das Wichtigste in Kürze: Nettelbeck war als Obersteuermann am transatlantischen Versklavungshandel beteiligt. Innerhalb dieses grausamen ökonomischen Systems wurden ca. 12,5 Millionen Menschen aus Afrika nach Amerika verschleppt, wobei 1,8 Millionen von ihnen unterwegs starben – Krankheiten erlagen, verdursteten oder schlicht von der Mannschaft der Schiffe zu Tode gequält wurden. Nettelbeck hat als Obersteuermann nicht nur den Menschhandel vor Ort durchgeführt und war maßgeblich für die Zustände an Bord seiner Versklavungsschiffe verantwortlich, er hat auch zusätzliche Einnahmequellen wie den Handel mit Goldstaub für sich zu nutzen gewusst. Darüber hinaus hat er versucht, drei preußische Könige zum Erwerb von Plantagenkolonien in der Karibik zu bewegen. Auf den Zuckerrohrplantagen der Karibik überlebten die versklavten Menschen in der Regel nur wenige Jahre. Sie wurden buchstäblich zu Tode gearbeitet oder starben an den Folgen von Folter, Vergewaltigung oder anderer Gewalt durch Aufseher und Plantagenbesitzer*innen. Schließlich hat Nettelbeck seine Heimatstadt Kolberg 1807 in eine so sinnlose wie mörderische Abwehrschlacht gestürzt. Statt dem Beispiel Erfurts zu folgen und vor den übermächtigen französischen Truppen kampflos zu kapitulieren, hat er seine Mitbürger*innen mit Durchhalteterror überzogen. Mitbürger*innen, die kapitulieren wollten, hat er gedroht, sie eigenhändig zu erdolchen.

Decolonize Erfurt und ISD, lokale Gruppe Thüringen


Online-Petition für die Umbenennung des Nettelbeckufers in Gert-Schramm-Ufer

Am 12. März startetet die Kampagne von „Decolonize Erfurt“ zusammen mit der „Initiative Schwarze Menschen in Deutschland“ zur Umbenennung des Erfurter Nettelbeckufers in Gert-Schramm-Ufer mit der Zustellung eines Briefes an die Anwohner*innen in der Straße in dem das Anliegen erklärt wurde.
Um für Unterstützung unseres Antrages an den Erfurter Stadtrat zur Umbenennung des Straßennamens in Gert-Schramm-Ufer zu werben, haben wir nun zusätzlich eine Online-Petition gestartet.


Informationsveranstaltung zum Umbenennungsvorhaben

Aufgrund der Allgemeinverfügung zur Bekämpfung von Infektionskrankheiten der Stadt Erfurt wird die Informationsveranstaltung zum Umbenennungsvorhaben verschoben.

Der neue Veranstaltungstermin wird rechtzeitig bekanntgegeben.

Wir, die zivilgesellschaftlichen Gruppen „Decolonize Erfurt“ und „Initiative Schwarze Menschen in Deutschland“, werden der Erfurter Stadtverwaltung Anfang April einen Antrag auf Umbenennung des Nettelbeckufers in Gert-Schramm-Ufer überreichen.

Die Kampagne zur Umbenennung des Erfurter Nettelbeckufers in Gert-Schramm-Ufer startete am 12. März mit der Zustellung eines Briefes an die 450 Haushalte in der Straße, in dem das Anliegen der Umbenennung erklärt wird.


Wie weiter mit Erfurts kolonialem Erbe?

12.12.2019, 19:30 Uhr, Begegnungsstätte Kleine Synagoge, An der Stadtmünze 4-5

Nachdem der Kolonialismus lange als Randnotiz der deutschen Geschichte angesehen wurde, ist er in den letzten Jahren in den Blick einer breiten Öffentlichkeit getreten: sei es anhand der Forderungen nach einer offiziellen Entschuldigung der Bundesregierung für den Genozid an den Herero und Nama, sei es anhand der Debatte um die Zukunft kolonial angeeigneter Sammlungsobjekte, die durch den französischen Restitutionsbericht von Felwine Sarr und Bénédicte Savoy an Fahrt gewonnen hat.
Was aber hat das alles mit Erfurt zu tun? Vor welche Herausforderungen stellt der Kolonialismus die hiesige Stadtgeschichtsschreibung und Kulturpolitik? Was können städtische Einrichtungen tun, wo ist die Erfurter Zivilgesellschaft gefragt? Konkret: Was passiert mit der „Südseesammlung“, die der Erfurter Kolonialbeamte Wilhelm Knappe seiner Heimatstadt im Jahr 1889 verkauft hat? Wie sieht ein angemessener Umgang mit dem Burenhaus und anderen kolonialen Spuren im Stadtbild aus? Welche Rolle spielt das koloniale Erbe im Selbstverständnis einer demokratischen, diversen und weltoffenen Stadt?
In Kooperation mit dem Max-Weber-Kolleg der Universität Erfurt und der Landeszentrale für politische Bildung Thüringen lädt die Landeshauptstadt Erfurt zu einem Podium, auf dem diese und weitere Fragen zum Umgang mit Erfurts Kolonialgeschichte diskutiert werden.

Teilnehmende:
Viviann Moana Wilmot (Initiative Schwarze Menschen in Deutschland)
Dr. Urs Lindner (Max-Weber-Kolleg der Universität Erfurt und Decolonize Erfurt)
Sarah Laubenstein (amt. Kulturdirektorin, Stadtverwaltung Erfurt)
Dr. Tobias J. Knoblich (Beigeordneter für Kultur und Stadtentwicklung, Stadtverwaltung Erfurt)

Moderation:
Dr. Martin Eberle (Direktor der Museumslandschaft Hessen-Kassel)


Ausstellung „Kolonialismus in Erfurt, 1503 bis heute“

08.11.-21.12.2019, Foyer der Universitätsbibliothek Erfurt

Vom 8.11 bis 21.12.2019 ist die Ausstellung „Kolonialismus in Erfurt, 1503 bis heute“ im Foyer der Universitätsbibliothek zu sehen – mit zwei neuen Postern und erstmalig auch mit Objekten. Wir sind der Meinung, dass der Kolonialismus ein fester Bestandteil der Erfurter Stadtgeschichtsschreibung und ihrer musealen Repräsentation werden muss! Und wir zeigen, wie das gehen kann. 

Öffnungszeiten der Universitätsbibliothek


10. Dekolonialer Stadtrundgang

08.11.2019, 18:30-20:30 Uhr, Treffpunkt: Ecke Augustinerstr. / Am Hügel

Der zehnte dekoloniale Stadtrundgang findet im Rahmen der langen Nacht der Wissenschaften statt. Er dauert ca. 2 Stunden und endet in der Bahnhofstraße. Danach besteht die Möglichkeit einer gemeinsamen Besichtigung der Ausstellung „Kolonialismus in Erfurt, 1503 bis heute“ in der Universitätsbibliothek. 


Ninth Decolonial City Tour (in English)

September 30, 2019, 5.00 pm, Starting point: corner Augustinerstr. / Am Hügel

What is the relationship between Erfurt and colonialism? Decolonial city walks are provided in order to answer this question. Their guiding assumption is that there are close connections between colonialism and its amnesia on the one hand and contemporary racism and global inequality on the other. The relationship between Erfurt and colonialism cannot be reduced to the short period from 1884 to 1919 when Germany officially had its own colonial territories. It started in 1503, when the merchant house of the Fugger, which was involved in the military occupation and exploitation of several regions of the Americas, established a trading post in Erfurt. And it continues up to this day in the form of buildings, museum collections and racist agitations by right-wing politicians. The city walk traces these manifestations always focusing on the possibility and historic reality of anti-colonial resistance.


«Briefe aus Stein. Von Nazi-Deutschland nach Südafrika»

23.09.2019, 19:00-2100 Uhr, Begegnungsstätte Kleine Synagoge, An der Stadtmünze 4/5, Erfurt

Buchvorstellung & Diskussion mit Professor Steven Robins (Stellenbosch University, Südafrika)

Das alte Postkartenfoto kannte Steven Robins schon, als er in den 1960er- und 1970er-Jahren im südafrikanischen Port Elizabeth aufwuchs. Es zeigt drei ihm unbekannte Frauen. Erst später erfuhr er, dass das Bild die Mutter und die Schwestern seines Vaters im Jahr 1937 in Berlin zeigt, bevor sie in Auschwitz getötet wurden. Seit der Namensänderung von Robinski in Robins erzählte Steven Robins’ Vater nichts mehr über seine Vergangenheit in Europa, nichts über seine Flucht aus Nazi-Deutschland, nichts über das Schicksal seiner Familie – bis Steven, inzwischen ein junger Anthropologe, ihn im Jahr vor seinem Tod befragte. Doch die Informationen, die sein Vater mitteilte, waren dürftig. Schließlich fand Steven Robins Unterlagen über seine Familie in Archiven und entdeckte über hundert Briefe, die die Familie von 1936 bis 1943 aus Berlin an seinen Vater und Onkel geschickt hatte. Dabei las Steven Robins auch Worte der Frauen auf dem Foto.

„Briefe aus Stein“ ist die ergreifende Rekonstruktion einer Familiengeschichte. Die Hilferufe seiner im Nazi-Staat gefangenen Angehörigen erreichten Steven Robins’ Vater in Südafrika, der jedoch nicht helfen konnte und schließlich den Rückzug ins Schweigen wählte.

In seinem Buch untersucht Steven Robins auch die Komplizenschaft seines Fachgebietes, der Anthropologie, die ebenso wie die Eugenik und die Ethnologie die vermeintlich wissenschaftlichen Grundlagen für den nationalsozialistischen Rassismus legte.

Das Buch erscheint im September im Metropol-Verlag (www.metropol-verlag.de).

In Kooperation mit der Initiative „Decolonize Erfurt“, der Professur für Wissenschaftsgeschichte der Universität Erfurt und dem Metropol-Verlag.

! Die Veranstaltung findet auf Englisch statt !

Link zur Veranstaltung: https://www.rosalux.de/veranstaltung/es_detail/BFH5C/briefe-aus-stein-von-nazi-deutschland-nach-suedafrika/


Kolonialer Rassismus: Die Produktion und Aneignung der „Anderen“ in den Städten Europas

10.07.2019, 19 Uhr, Haus Dacheröden, Anger 37, Erfurt

Eine Veranstaltung mit Dr. Noa K. Ha (TU Dresden, Zentrum für Integrationsstudien)

In ihrem Vortrag geht Noa Ha der Frage nach, wie Menschen in europäischen Städten als „Andere“ markiert und rassifiziert werden – und wie dieser Prozess mit der kulturellen Aneignung und historischen Enteignung dieser „Anderen“ einhergeht.

Folgenden Fragen werden diskutiert: Welche Rolle spielen z.B. ethnologische Sammlungen in den postkolonialen Städten Europas? Wer wurde enteignet, und wer profitierte davon? Wie wurde das Wissen in Europa hierdurch geprägt und was meint Europa über die „Anderen“ zu wissen? Wie ist dieses Wissen bis heute wirksam?

Entlang dieser Fragen wird auf verschiedene (neo-)koloniale Formen der An- und Enteignung der „Anderen“ in europäischen Städten (wie ethnologische Sammlungen, „Völkerschauen“, Weltausstellungen) eingegangen, sowohl in ihrer Wirkmächtigkeit als koloniales Vermächtnis bis in die Gegenwart als auch in unserem Alltagswissen.

Eine Veranstaltung von Decolonize Erfurt in Kooperation mit der Rosa Luxemburg Stiftung Thüringen und gefördert durch den LAP Erfurt / Partnerschaft für Demokratie im Rahmen des Bundesprogramms „Demokratie leben!“, des Thüringer Landesprogramms „Denk bunt“ für Demokratie, Toleranz und Weltoffenheit sowie die Stadt Erfurt.


Seventh Decolonial City Tour (in English)

July 9, 2019, 4.00 pm, Starting point: Willy-Brandt-Platz in front of „Willy Brandt ans Fenster“

The seventh decolonial city tour will take place in cooperation with Bauhaus University Weimar. It will focus on images, stereotypes and cultural appropriation. It will take around two and a half hours and will end at Stadtgarten. (The picture shows how Erfurt´s Boer house commemorates protagonists of white supremacy.)


TRACES vol.I: Ein Theaterstück zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.

05.07.2019, 19:30 Uhr, Frau Korte, Magdeburger Allee 179

„TRACES“ – eine theatrale Recherche zu kolonialen Spuren in Berlin und Lomé.

TRACES ist eine Koproduktion zwischen X Perspektiven (Deutschland / Schweiz, www.x-perspektiven.com) und der Compagnie Artistique Carrefour (Togo). In zwei Recherche- und Probenphasen in Lomé (Februar-März 2019) und Berlin (Juni-Juli 2019) entwickelten 12 junge Erwachsene unter theaterpädagogischer Leitung zwei Performances.

Wir freuen uns, die erste der beiden Performances TRACES vol.I in Erfurt präsentieren zu können:

TRACES vol.I: Ein Theaterstück zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Ein Stück zwischen zwei Ländern, vielen Identitäten und unzähligen Versionen der Geschichtsschreibung. Ein Stück in dem König Mlapa auf Salvini trifft, Bismarck an Sonnenallergie leidet und die Bücher von Frantz Fanon zur Pflichtlektüre in der Schule ausgerufen werden. TRACES vol.I – Versuch einer gemeinsamen Erinnerung, Versuch einer Utopie.

Regie, Konzept, Produktionsleitung:
Eliana Schüler, Valeria Stocker, Jean Koffi Edem Touglo
Spieler*innen: Hanifatou S. Dobila, Marléne Douty, Raoul Ket, Félicité Kodjo-Atsou, Isabel Kwarteng-Acheampong, Auro Orso, Moïse Pak, Fabrice Paraiso, Maud Ruget, Stephanie Treichel, Annkatrin Votteler-Veit, Anne Zöppig
Grafik: Clara Brandt
Assistenz: Sonia Akou Novinyo, Mirjam Oschwald

Das Stück wird in einer Mischung aus deutsch, französisch und englisch aufgeführt.

Gefördert durch den LAP Erfurt / Partnerschaft für Demokratie im Rahmen des Bundesprogramms „Demokratie leben!“, des Thüringer Landesprogramms „Denk bunt“ für Demokratie, Toleranz und Weltoffenheit sowie die Stadt Erfurt.

Open Air Veranstaltung
Wann: Freitag, 5. Juli 2019
Wo: Frau Korte, Magdeburger Allee 179
Einlass: 19:30 | Beginn: 20:00
AK: 4 – 6€
Im Anschluss an das Theaterstück bleibt noch Zeit für Fragen und eine Diskussionsrunde.

Weitere Infos: https://www.facebook.com/events/1263370623827934/


„Refugee Gambarab“ – ein transkulturelles Wochenende von Gambia bis „Arabien“

14. bis 15.06.2019, im KulturQuartier Schauspielhaus

Unter dem Titel „Refugee Gambarab“ organisieren der dindingo-Gambia e.V., Slow Budget Productions und der Kulturquartier Erfurt e.V. in Kooperation mit der Seebrücke Erfurt und Decolonize Erfurt ein vielseitiges und spannendes Programm.
Gleichzeitig begeht der Erfurter Verein dindingo-Gambia e.V. mit diesem vollgepackten Wochenende seine Volljährigkeit und das soll gefeiert werden!

Am Freitag und Samstag erwartet die Gäste:

  • eine Fotoausstellung über Gambia
  • Infostände verschiedener Vereine und Initiativen
  • ein Konzert der syrisch-deutschen Hamburger Band „Shkoon“ mit Oriental Slow House-Klängen
  • eine Party mit globalen Sounds durch DJane Pachamama & friends
  • der sechste dekoloniale Stadtrundgang durch Erfurt
  • ein Workshop zu Fluchtursachen in Gambia
  • gambisches Essen
  • eine Filmdokumentation zur Perspektive auf das Thema irreguläre Migration in Gambia sowie anschließender Gesprächsrunde mit dem Filmemacher
  • noch mehr Musik beim DJ*ane-Karussel
  • und natürlich viel Austausch, Amüsement, neue Kontakte und vielleicht die ein oder andere Erkenntnis!

Der sechste dekoloniale Stadtrundgang findet am 15. Juni statt und wird sich Themen wie zum Beispiel Konsum und (Neo-) Kolonialismus und Deutsche Entwicklungspolitik widmen. Treffpunkt zum Stadtrundgang ist 12 Uhr vor dem Anger 1 (am neuen Angerbrunnen).

Das gesamte Programm ist kostenfrei, Spenden sind willkommen.


Die Kommunalwahl, die Parteien und die Aufarbeitung des Kolonialismus in Erfurt

Am 26. Mai 2019 finden in Thüringen die Kommunalwahlen statt. Während das Stadtbild viele verschiedene und bunte Plakate schmücken und wenige konkrete Antworten zu kommunalpolitischen Fragen geboten werden, haben wir die im Erfurter Stadtrat vertretenen demokratischen Parteien sowie die Mehrwertstadt befragt, wie sie mit den Spuren und Kontinuitäten des Kolonialismus in Erfurt umzugehen gedenken. Insgesamt handelt es sich um sieben Fragen, die wir den Parteien als Wahlprüfsteine vorgelegt haben: zur Umbenennung von Straßen wie dem Nettelbeckufer, zur kritischen Kommentierung des Burenhauses, zur Zukunft der „Südseesammlung“, zu problematischen Inszenierungen im Zoopark, zur Einführung von Rassismus- und Diversitytrainings in der Stadtverwaltung, zur Aufarbeitung der Erfurter Hetzjagd von 1975 sowie zur Bereitstellung von Finanzen für die dekoloniale Erinnerungsarbeit. Antworten kamen von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, DIE LINKE., FDP und Mehrwertstadt. Im Folgenden eine selektive Auswertung der Antworten, die wir erhalten haben. Wer Interesse an mehr und die nötige Zeit zur Lektüre hat, kann sich im Anhang sämtliche Fragen und Antworten zu Gemüte führen.

Auch in Erfurt finden sich Straßennamen, die kolonialhistorisch belastet sind. Ein prominentes Beispiel ist das Nettelbeckufer, dessen Namensgeber durch den Handel mit versklavten Menschen reich geworden ist. Wir wollten wissen: Wie verhält sich Ihre Partei zu Straßennamen, die das koloniale Unrecht als etwas Positives erscheinen lassen? Werden sich Ihre Stadtratsfraktion und Ihre Mandatsträgerinnen und Mandatsträger für Umbenennungen kolonial belasteter Straßennamen einsetzen? Alle vier Parteien, die unsere Wahlprüfsteine beantwortet haben, teilen das Problembewusstsein hinsichtlich derartiger Straßennamen. DIE LINKE. zieht eine kritische Kommentierung durch Plaketten einer Straßenumbenennung vor. Die Mehrwertstadt hat ebenfalls eine Tendenz in Richtung Plakette und möchte das Problematische im Stadtbild sichtbar halten. Die FDP steht einer Überprüfung von Straßennamen durch ein interdisziplinäres wissenschaftliches Team offen gegenüber. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN verweisen in ihrer Antwort auf die Diskussionen um Straßennamen mit NS-Bezug und lassen eine Bereitschaft zur Umbenennung erkennen.

Erfurt verfügt mit der „Südseesammlung” über eine Ausstellung, deren Zustand nicht den Standards der gegenwärtigen erinnerungspolitischen Debatte entspricht. Nicht nur ist die Provenienz der rund 600 Kulturobjekte nach wie vor ungeklärt, auch werden menschliche Überreste ausgestellt. Der koloniale Gewaltzusammenhang, innerhalb dessen der Erfurter Kolonialbeamte Wilhelm Knappe die Sammlung „erworben” hat, wird in der Ausstellung verharmlost. Unserer Fragen lauteten: Werden Sie sich dafür einsetzen, dass die menschlichen Überreste, die im Benaryspeicher lagern, unverzüglich zurückgegeben werden? Sind Sie bereit, einen Dialog über die Zukunft der „Südseesammlung” zu unterstützen, der die Herkunftsländer der Kulturgüter einbezieht? Was sind Ihre Pläne bezüglich der „Südseesammlung”? Die Mehrwertstadt möchte die Rückführung menschlicher Überreste den Herkunftsländern anbieten und mit ihnen auch über die Zukunft der Sammlung insgesamt sprechen. Die Bündnisgrünen legen einen starken Akzent auf die Einbeziehung der Herkunftsländer in die Diskussion und regen darüber hinaus eine kritische Auseinandersetzung mit der Sammlung im Gothaer Schloss Friedenstein an. Die Linkspartei unterstützt uns hinsichtlich der „Südseesammlung“ „vollumfänglich“ und geht mit Vorschlägen zur Restitution sogar noch weiter als wir. Bei der FDP gibt es aktuell keine Beschlusslage zum Umgang mit der Sammlung.

Der Rassismus auch im heutigen Deutschland hat seine Wurzeln im Kolonialismus. Ein Ereignis, das diese Kontinuität verdeutlicht, ist die Hetzjagd auf Arbeitsmigrant*innen aus Algerien, die im August 1975 in Erfurt stattfand. Wir haben den Parteien dazu folgende Fragen gestellt: Welche Bedeutung messen Sie diesen Übergriffen bei? Was werden Sie tun, um diese Übergriffe und die Diskriminierungen, denen „Vertragsarbeiterinnen“ und „Vertragsarbeiter“ in der DDR ausgesetzt waren, aufzuarbeiten und geeignet daran zu erinnern? Für die FDP umfasst eine historische Aufarbeitung derartiger Unrechtstaten eine Reihe von Maßnahmen, darunter die schulische und außerschulische Behandlung. Die Mehrwertstadt möchte als ersten Schritt einen Prüfauftrag an die Stadtverwaltung richten. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN verweisen darauf, dass sie bereits eine Veranstaltung mit Harry Waibel zum Thema durchgeführt haben. Für sie ist es ein Ziel, dass auch dieser Teil der Vergangenheit aufgearbeitet und aufgeklärt wird. Sie adressieren die Gedenkstätte Andreaskirche und die Landeszentrale für politische Bildung als angemessene Orte, um über Rassismus in der DDR offensiv aufzuklären. DIE LINKE. verweist auch auf die Gedenkstätte Andreaskirche, die für die „DDR-Aufarbeitung“ finanziell ausgestattet ist.

Ausgewählte Wahlprüfsteine auf einen Blick:

Frage BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN DIE LINKE. FDP Mehrwertstadt
Umbenennung von kolonialhistorisch belasteten Straßennamen X = X
Kommentierung von Straßennamen durch Zusatzschilder =
Anbringung einer Plakette am Burenhaus, die auf den Zusammenhang zwischen Kolonialismus, Burenrepubliken und südafrikanischer Apartheid verweist = X
Dialog über Zukunft der „Südseesammlung“ mit Herkunftsländern =
Rückgabeangebot menschlicher Überreste =
Antirassismus-und Diversitätstrainings in der Stadtverwaltung 
Aufarbeitung der Erfurter Hetzjagd von 1975 =

Zustimmung (√), Ablehnung (X), Offene Antwort (=), Keine passenden Angaben (-)

Die Beantwortung der Wahlprüfsteine durch die vier Parteien zeigt, dass sie sich mit den Spuren und Kontinuitäten des Kolonialismus in Erfurt befasst haben und gewillt sind, zu seiner Aufarbeitung beizutragen. Wir hoffen, dass diese Bereitschaft auch nach der Wahl anhält. Wir wünschen uns, dass auch die anderen Erfurter Parteien beginnen, sich mit dem Thema zu beschäftigen und es ernst zu nehmen. Es geht um Unrecht, dass nicht vergessen werden darf.

Wahlprüfsteine – vollständige Antworten