
Liebe Mitbürger*innen, Unterstützer*innen und Freund*innen,
Das Krisenjahr 2020 neigt sich dem Ende zu und wir wollen den Jahreswechsel zum Anlass nehmen, das Erreichte Revue passieren zu lassen und auf bevorstehende Herausforderungen zu blicken. Als zivilgesellschaftliche Initiative haben wir wieder vielfältige Aktivitäten entfaltet. Neben unserem Kerngeschäft, den dekolonialen Stadtrundgängen, haben wir z.B. gemeinsam mit den Städtischen Geschichtsmuseen, der Landeszentrale für politische Bildung Thüringen, der Rosa Luxemburg Stiftung Thüringen und der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland (ISD) die Ausstellung „Breaking the Silence: Der Zorn des Mdachi bin Sharifu“ nach Erfurt geholt und ein umfangreiches Begleitprogramm organisiert. Im September haben wir mit den Decolonize-Gruppen aus Weimar und Jena sowie dem Eine Welt Netzwerk Thüringen das Netzwerk „Decolonize Thüringen“ gegründet, das die dekolonialen Aktivitäten im Freistaat bündelt.
Entscheidend geprägt war unser Jahr jedoch durch die Kampagne zur Umbenennung des Erfurter Nettelbeckufers in Gert-Schramm-Ufer, die wir im März zusammen mit der ISD gestartet haben. Die Kampagne sollte, so der ursprüngliche Plan, mit einer Informationsveranstaltung primär für die Anwohner*innen beginnen. Covid-19 und der erste Lockdown machten einen Strich durch die Rechnung und wir mussten zunächst digital agieren. Die ersten beiden Kampagnenmonate bestanden daher aus einer Online-Lesung aus Gert Schramms Autobiographie „Wer hat Angst vorm schwarzen Mann“, einem Q&A-Format, in dem wir auf Einwände eingegangen sind, und der Veröffentlichung eines wissenschaftlichen Gutachtens, das drei Mitglieder unserer Initiative verfasst haben. Anfang Juni haben wir eine Broschüre herausgebracht, die das Umbenennungsvorhaben ausführlich begründet. Über den Sommer folgte eine Serie von Freiluftveranstaltungen, die von einer eigens entwickelten Wanderausstellung begleitet wurden. Wir waren mit diesem Format zunächst am Nettelbeckufer und dann mehrfach auf dem Fischmarkt, u.a. um den 25. Geburtstag des Erfurter Deserteurdenkmals zu begehen. Hinzu kamen Lesungen aus Gert Schramms Autobiographie vor dem Kulturquartier und der Lutherkirche sowie Schulprojekte in der Jenaplanschule am Nettelbeckufer und in der Gemeinschaftsschule am Roten Berg.
In einem offenen Brief haben sich 32 Persönlichkeiten aus Stadt und Land für die Umbenennung ausgesprochen; von der Gedenkstätte Buchenwald gab es eine Solidaritätsbotschaft. Die von uns lancierte Petition wurde von über 1000 Erfurter*innen sowie 1300 auswärtigen Befürworter*innen unterzeichnet. Im Erfurter Stadtrat unterstützen uns die Fraktionen von Die Linke, Bündnis 90/Die Grünen und Mehrwertstadt. Entsprechend groß war auch das Echo in den Medien: eine Vielzahl von Artikeln in der Thüringer Allgemeinen, mehrere Beiträge bei MDR, Deutschlandradio und taz sowie eine rege Berichterstattung bei Radio F.R.E.I.
Mit der Umbenennungskampagne haben wir in der Erfurter Stadtgesellschaft eine kontroverse öffentliche Debatte über Straßenumbenennungen, Erinnerungspolitik, Kolonialismus und Joachim Nettelbeck angeregt und Gert Schramm die Aufmerksamkeit verschafft, die er verdient. Ein Resultat unserer Aktivitäten ist, dass der Erfurter Stadtrat kurz vor Verabschiedung eines Antrags steht, der die Stadt zur Aufarbeitung ihres kolonialen Erbes verpflichtet und dafür auch Mittel bereitstellt. Darüber hinaus haben wir überregional gewirkt, und zwar in einem Maß, das uns selbst überrascht. Eberswalde hat mit Bezug auf unsere Kampagne beschlossen, seinen Bahnhofsvorplatz nach Gert Schramm zu benennen, den Ort, an dem der Bundesverdienstkreuzträger lange Jahre sein Taxi stehen hatte. In Dortmund wurde Anfang Dezember, ebenfalls mit Bezug auf uns, entschieden, die dortige Nettelbeckstraße umzubenennen. Die Vorbildfunktion für die vielen anderen Städte mit nach Nettelbeck benannten Straßen, die wir für Erfurt vorgesehen hatten, geht damit von der Ruhrmetropole im Westen Deutschlands aus.
Die öffentliche Debatte zur Umbenennung hat ausgezeichnete Beiträge, manche Polemik und auch überraschende Wendungen gesehen. So hat der Historiker Steffen Raßloff, einer unserer schärfsten Kritiker, zugestanden, dass heute wohl keine Straße mehr nach Nettelbeck benannt werden würde. Gleichwohl hält er eine Umbenennung des Nettelbeckufers für unangemessen, da der Namensgeber nur ein Kolonialist zweiten Ranges gewesen sei. Die Frage, die Erfurt zu beantworten hat, lässt sich damit folgendermaßen formulieren: Muss der Namensgeber einer Straße, die umbenannt werden soll, ein sadistischer Massenmörder à la Carl Peters gewesen sein? Oder reicht es, dass er, wie Nettelbeck, die Versklavung von bis zu 700 Menschen vor Ort organisiert hat, dass er versucht hat, drei preußische Könige zum Erwerb von Plantagen- und Versklavungskolonien zu bewegen, und dass er, weil er seine Heimatstadt für die „nationale Ehre“ geopfert hat, zu einer identitätsstiftenden Figur des deutschen Nationalismus und zum Propagandahelden der Nazis wurde?
Die Erfurter AfD hat im Sommer drei Monate lang ihren gesamten Parteiapparat in Bewegung gesetzt, um am Ende rund 400 gültige Unterschriften für einen Einwohner*innenantrag zu sammeln, der fordert: „Das Nettelbeckufer wird nicht umbenannt.“ Der Erfurter Stadtrat hat den AfD-Antrag Mitte Dezember mit überwältigender Mehrheit abgelehnt. Wenn die Rechtsextremen den „Patrioten Nettelbeck“ vor dem „linken Kulturkampf“ schützen wollen, geht es ihnen, genauso wie bei der Verdrängung des kolonialen Unrechts insgesamt, vor allem um eins: die „erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“ (Björn Höcke). Etabliert werden soll die Erzählung, die Shoah und die anderen NS-Genozide seien ein Betriebsunfall bzw. ein „Vogelschiss“ (Alexander Gauland) in einer ansonsten großartigen und glorreichen deutschen Geschichte gewesen. Wohin dieser Umgang mit Geschichte führt, zeigen die Terroranschläge von Halle und Hanau wie auch die derzeitige Pandemiesituation.
Die Stadtratsfraktionen von CDU, FDP und Freien Wählern/Piraten haben Anfang Oktober einen Antrag vorgelegt, der die Neubenennung einer Erfurter Straße nach Gert Schramm sowie ein Zusatzschild am Nettelbeckufer vorsieht. Die drei Fraktionen verstehen ihren Antrag als „demokratischen Kompromiss“. Wir möchten an dieser Stelle nochmals betonen, dass dieser Vorschlag sowohl der Form als auch dem Inhalt nach inakzeptabel ist. Der Form nach: Ein Kompromiss ist etwas, auf das sich zwei Seiten verständigen, und nicht etwas, das eine Seite vorgibt. Dem Inhalt nach: Die Neubenennung einer Straße nach Gert Schramm stellt eine Ehrung zweiter Klasse dar, da sie dem Buchenwald-Überlebenden die Straße seiner Geburt, das Nettelbeckufer, verweigert und in der Form der Ehrung gerade nicht vollzieht, wofür der Bundesverdienstkreuzträger sein Leben lang gekämpft hat: den Perspektivwechsel von den Täter*innen zu den Opfern. Irgendwo am Nettelbeckufer ein Zusatzschild anzubringen, auf dem steht, dass der Namensgeber eigentlich nicht geehrt gehört, führt die Ehrungsfunktion von Straßennamen ad absurdum, untergräbt öffentliche Institutionen und damit letztlich auch die Demokratie.
Sollte der Antrag der drei Fraktionen 2021 eine Mehrheit finden, wird er nur eins erreichen: Gert Schramm als neuen Namensgeber des Nettelbeckufers zu verhindern. Auf diese Weise würde die einmalige erinnerungspolitische Chance vertan, in Erfurt einen Ort zu schaffen, der das KZ Buchenwald mit dem „Schwarzen Atlantik“, dem transatlantischen Versklavungshandel und der Kultur Schwarzen Widerstands, verbindet. Die Diskussion um das Nettelbeckufer wird dadurch nicht beendet, und die Forderung nach Umbenennung auch nicht verstummen. Es gibt diverse Schwarze Persönlichkeiten, die als neue Namensgeber*innen ebenfalls in Frage kommen: May Ayim, Sojourner Truth, Ida Wells, W.E.B. Du Bois, Theodor Michael oder Mdachi bin Sharifu, wobei die drei männlichen Kandidaten sogar über einen Regional- bzw. Lokalbezug verfügen. Was die CDU den Anwohner*innen verspricht: für „Klarheit und Ruhe“ zu sorgen, kann sie im Alleingang gar nicht erreichen. Nötig ist dafür, dass die demokratischen Kräfte sich zusammensetzen und gemeinsam eine Lösung finden. Dazu bedarf es tatsächlicher Kompromissbereitschaft und politischer Phantasie – letztere ist, im Unterschied zur Landesebene, bislang noch nicht die allergrößte Stärke unserer Stadt.
Neben „Nettelbeck war nicht schlimm genug“ ist als Hauptargument gegen die Umbenennung immer wieder auf unzumutbare Kosten und Aufwände für die Anwohner*innen verwiesen worden. Sachlich wurde dieser Einwand bereits durch eine offizielle Auskunft entkräftet, die Torben Stefani, der Vorsitzende der Straßennamenskommission, im August erteilt hat: Kosten und Aufwände sind sowohl für die Anwohner*innen als auch die Stadt überschaubar. Es existiert an dieser Stelle auch eine eigentümliche Ironie des Protests: Der Aufwand, den einige Anwohner*innen betreiben, um gegen die Umbenennung zu mobilisieren, übersteigt bei Weitem alles, was durch die Umbenennung auf sie zukäme. Bereits im September haben Anwohner*innen, die die Umbenennung befürworten, in einem Brief an ihre Nachbar*innen angemerkt, dass all das Engagement, dagegen zu sein, locker ausreichen würde, die Umbenennung gemeinsam und solidarisch zu stemmen. Das gilt auch für das neue Jahr: Es ist nie zu spät, negative in positive Energie zu verwandeln.
In diesem Zusammenhang müssen wir auch selbstkritisch sein: Wir haben die Konfrontationsdynamiken unterschätzt, die durch die Umbenennungsforderung im Allgemeinen und die Pandemiesituation im Besonderen entstanden sind. Und wir haben zu wenig unternommen, um derartigen Dynamiken aktiv entgegenzuwirken. Wir werden daher im neuen Jahr nochmals einen Schritt auf die Anwohner*innen zugehen. Unsere Hoffnung ist, dass sich daraus ein Gespräch entwickelt, das durch wechselseitiges Einander-Zuhören gekennzeichnet ist. Zur Demokratie gehört der Streit – den wir bekanntermaßen gerne kultivieren. Am Ende des Tages kommt es jedoch darauf an, dass keine Seite die andere dominiert und eine Verständigung unter Freien und Gleichen stattfindet.
Besonders zu denken gegeben hat uns, dass unser Agieren mit Überwältigungen verglichen wurde, wie sie nach 1989 in Ostdeutschland stattgefunden haben. Wir bedauern es zutiefst, sollten wir Salz in die entsprechenden Wunden gestreut haben. Gleichzeitig liegt in dieser Konstellation auch eine große Chance. Erinnerung muss nicht kompetitiv und ausschließend sein. Das Anliegen, um das es bei der Umbenennung geht, hat der Publizist Henryk Goldberg auf den Punkt gebracht: „Von der Hitler-Zeit erzählen, zum Beispiel, die Thälmannstraße und eben die Stauffenbergallee, auch ohne Hitler-Straßen.“ Wir wollen eine Erinnerungskultur, in der sowohl für die Menschheitsverbrechen des Kolonialismus und des NS als auch für das Unrecht der DDR und die Unrechtserfahrungen nach 1989 Platz ist. Nur so lassen sich die Gräben überwinden, die die Hetzer*innen und Spalter*innen jeden Tag von Neuem ausheben. Wir begrüßen daher auch ausdrücklich das stadthistorische Projekt „Leben am Nettelbeckufer“, das beim Jugendforum von Radio F.R.E.I. angesiedelt ist und unabhängig von der Umbenennungsdebatte das Ziel verfolgt, die Geschichte der Straße durch die Erzählungen ihrer verschiedenen Bewohner*innen festzuhalten.
Das Leben von Gert Schramm zeigt, dass Krisen nur mit Solidarität und Offenheit gegenüber Veränderungen bewältigt werden können. Das gilt für die Corona-Pandemie und in gesteigertem Maß auch für die Klimakrise. Wir wollen mit der Umbenennungskampagne auch im neuen Jahr dazu beitragen, eine solche Solidarität und Offenheit in der Stadt zu fördern. Veränderungsprozesse lassen sich miteinander und füreinander gestalten. Veränderung kann dann befreiend sein.
Wir bedanken uns bei unseren Unterstützer*innen wie auch bei unseren Kritiker*innen. Bleiben Sie alle gesund!