
In der Debatte um die Umbenennung des Erfurter Nettelbeckufers in Gert-Schramm-Ufer hat sich der Erfurter Oberbürgermeister Andreas Bausewein jüngst dafür ausgesprochen, historische Personen nach den Maßstäben ihrer Zeit zu beurteilen und nicht nach unseren gegenwärtigen Wertvorstellungen. Dem steht das Kriterium des Erfurter Stadtrats aus dem Jahr 1991 entgegen, dass Namensgeber*innen von Straßen Leistungen aufweisen müssen, die „aus heutiger Sicht“ als positiv zu bewerten sind. Ähnlich argumentiert der Historiker Jürgen Zimmerer, wenn er in der „Thüringer Allgemeinen“ dazu einlädt, „jetzt zu sagen, wofür ein Nettelbeck heute geehrt werden soll.“
Welche der beiden Sichtweisen ist plausibler? Besteht bei der gegenwartsbezogenen Beurteilung die Gefahr, dass historische Personen überhaupt nicht mehr mit Straßennamen geehrt werden können, weil sich Werte- und Moralvorstellungen beständig ändern? Und was heißt es überhaupt, historische Personen „nach den Maßstäben ihrer Zeit“ zu beurteilen? Wann endet „ihre Zeit“ und wann fängt „unsere“ an? Sollten wir uns an den herrschenden Maßstäben früherer Zeiten orientieren oder an marginalisierten Stimmen? Welche Möglichkeiten bestehen, die gegenwartsbezogene und die historische Sichtweise miteinander zu verbinden?
Antworten auf diese Fragen entwickeln wir mit Prof. Dr. Jens-Christian Wagner, dem Inhaber des Lehrstuhls „Geschichte in Medien und Öffentlichkeit“ an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora. Jens-Christian Wagner ist Historiker und Autor mehrerer Bücher zur Geschichte des Nationalsozialismus.

Joachim Nettelbeck (1738 – 1824) hat als Obersteuermann auf niederländischen Versklavungsschiffen den Handel mit bis zu 750 Menschen befehligt: Mit einem Beiboot ist er die westafrikanische Küste abgefahren, wo er die gefangenen Menschen eingekauft hat; auf den Schiffen hat er das grausame Regime aufrechterhalten, das dort herrschte; auf den Märkten der Karibik hat er die Verschleppten weiterverkauft. Darüber hinaus hat Nettelbeck versucht, drei preußische Könige zum Erwerb von Kolonien zu bewegen (sklavereibasierte Plantagenkolonien in der Karibik und ein Versklavungsstützpunkt in Westafrika), weshalb er zur Zeit der Erfurter Straßenbenennung im Jahr 1905 auch als Pionier des deutschen Kolonialismus verehrt wurde. Über einen mehrere Wochen dauernden Aufenthalt auf einer Plantage in Surinam schreibt er in seiner Autobiographie, es sei die schönste Zeit seines Lebens gewesen.
Wie hat der transatlantische Versklavungshandel eigentlich funktioniert? Was waren die Realitäten auf den Schiffen, die die „Mittelpassage“ befuhren? Was für ein ökonomisches System hat dieser Handel ermöglicht? Was hat er mit den afrikanischen Gesellschaften gemacht, die von ihm betroffen waren? Unter welchen Bedingungen haben die Versklavten auf den Plantagenkolonien der beiden Amerikas gelebt und gearbeitet? Und schließlich: Wie steht es um die deutschen Beteiligungen an diesem Menschheitsverbrechen?
Über diese Fragen unterhalten wir uns mit Prof. Dr. Michael Zeuske, einem der international renommiertesten Sklavereihistoriker*innen. Michael Zeuske ist Senior Professor am Center for Dependency and Slavery Studies der Universität Bonn. Er ist Autor mehrerer Bücher, u.a. einer Globalgeschichte der Sklaverei, Herausgeber mehrerer Sammelbände und hat zahlreiche Artikel zum Thema veröffentlicht.

Gegen Ende seines Lebens hat sich Joachim Nettelbeck (1738 – 1824) von seiner Tätigkeit als Steuermann auf niederländischen Versklavungsschiffen distanziert. In seiner Autobiographie schreibt er dazu: „Vor 50 Jahren war und galt dieser böse Menschenhandel als ein Gewerbe, wie andre, ohne daß man viel über seine Recht- oder Unrechtmäßigkeit grübelte. Barbarische Grausamkeit gegen die eingekaufte Menschen-Ladung war nicht nothwendiger Weise damit verbunden und fand auch wohl nur in einzelnen Fällen statt; auch habe ich, meines Theils, nie dazu gerathen oder geholfen.“ Und am Ende des Buchs heißt es: „Wann will und wird bei uns der ernstliche Wille erwachen, den afrikanischen Raubstaaten ihr schändliches Gewerbe zu legen, damit dem friedsamen Schiffer, der die südeuropäischen Meere unter Angst und Schrecken befährt, keine Sklavenfessel mehr drohen? Wenn ich das noch heute oder morgen verkündigen höre, dann will ich mit Freuden mein lebenssattes Haupt zur Ruhe niederlegen!“
Wie sind diese Äußerungen zu bewerten? Ist Nettelbecks späte Distanzierung vom Versklavungshandel unter den damaligen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen „bemerkenswert“, wie der Erfurter Oberbürgermeister Andreas Bausewein jüngst betont hat? Gab es Rechtfertigungszwänge, auf die Nettelbeck reagiert? Was war der Stand der sklavereikritischen Debatte zu seinen Lebzeiten? Und worauf läuft Nettelbecks letzter Wunsch hinaus, der Sklaverei zu einem Verbrechen der anderen („afrikanische Raubstaaten“) erklärt?
Nach Antworten auf diese und andere Fragen suchen wir mit Dr. Sarah Lentz, die 2020 eine wegweisende Studie zum Thema vorgelegt hat: „>Wer helfen kann, der helfe!< Deutsche SklavereigegnerInnen und die atlantische Abolitionsbewegung, 1780 – 1860“. Sarah Lentz ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Geschichtswissenschaft der Universität Bremen.