Unverhältnismäßiger Polizeieinsatz gegen Stadtrundgang zur Hexenverfolgung in Erfurt im Rahmen der alternativen Studieneinführungstage – Hintergrundinformationen und O-Töne


Am 28.10.2023 wurde ein Stadtrundgang im Rahmen der alternativen Studieneinführungstage „Nächste Ecke Links“ durch einen unverhältnismäßigen Polizeieinsatz vorzeitig beendet: Die Teilnehmer:innen wurden kurzzeitig festgesetzt, es kam zu Körper- und Taschendurchsuchungen, der Aufnahme von Personalien aller Teilnehmenden und zu abschätzigen Kommentaren seitens der Polizei. Die Veranstalter:innen und das Bündnis hinter den Alternativen Einführungstagen verurteilen das Vorgehen der Polizei.

Die alternativen Studieneinführungstage „Nächste Ecke Links“ werden seit 2015 von studentischen und linken Gruppen sowie (Partei- und Gewerkschafts-) Jugendverbänden getragen und sollen Studienanfänger:innen einen Einblick in die alternative Soziokultur Erfurts bieten. Dafür finden verschiedene Bildungsangebote statt, in diesem Jahr u. a. ein historischer Stadtrundgang zum Thema „Hexenverfolgung in Erfurt während der frühen Neuzeit“. Dieser sollte ursprünglich 14 Uhr beginnen, wurde aber von den Veranstalter:innen auf 11 Uhr vorverlegt, da die AfD für diesen Tag einen Aufmarsch um 15 Uhr angekündigt hatte. Ausgangsort für den AfD-Aufmarsch war der Platz vor der Staatskanzlei, an dem auch die letzte Station des Rundgangs stattfinden sollte. „Wir wollten einerseits nicht mit der Demonstration der AfD und dem zu erwartenden Polizeiaufgebot kollidieren – vor allem zum Schutz unserer Teilnehmer:innen – und andererseits sollten die Teilnehmer:innen die Möglichkeit haben, an den Gegenprotesten teilzunehmen“, wie Sandy von der „Historischen Selbsthilfegruppe“, den Organisator:innen des Stadtrundgangs, berichtet.

Gegen 12:30 Uhr fanden sich die Teilnehmenden des Stadtrundgangs an der vorletzten Station in der Straße „Lange Brücke“ zusammen. Bereits hier tauchten ca. ein Dutzend Beamt:innen auf, beobachteten den Stadtrundgang und folgten den Teilnehmer:innen zur letzten Station an der Staatskanzlei. Dort erfolgte um 13:12 Uhr die erste Ansprache an die Gesamtgruppe durch die Polizei: Alle Anwesenden hätten ihre Personalien abzugeben. Nach wenigen Minuten folgte die zweite Ansprache, dass an allen Anwesenden eine Körper- und Taschendurchsuchung vollzogen werden würde. Auf Nachfrage erklärte die Polizei, dass es sich um eine „Vorkontrolle“ handle, die angebracht sei, weil die Teilnehmer:innen des Rundgangs „phänotypisch links“ aussähen. Die Polizei wurde über den Hintergrund des Stadtrundgangs in Kenntnis gesetzt und darüber informiert, dass der Rundgang nur noch wenige Minuten dauern würde. Ebenso wurde das Angebot unterbreitet, die letzte Station räumlich zu verlegen. Obwohl zu diesem Zeitpunkt die AfD-Kundgebung noch zwei Stunden in der Zukunft lag, ist die Polizei auf diese Angebote nicht eingegangen und führte die Maßnahme wie angekündigt durch, wodurch es unmöglich wurde, den Stadtrundgang wie geplant zu Ende zu führen. Am Rande kam es auch zu abschätzigen Kommentaren der Polizei, u. a. bezeichnete ein Beamter das Thema des Rundgangs als „Frauenzeug“.

„Wir haben den Stadtrundgang extra nach vorn verschoben, um den historischen Ort in Ruhe in unseren Rundgang einbeziehen zu können. Dass die Polizei aber aufgrund des Aussehens unserer Teilnehmer:innen den Rundgang zum Objekt polizeilicher Maßnahmen machen würde, konnten wir nicht antizipieren“, so Sandy Wolff, Historikerin und Organisatorin des Stadtrundgangs. Maike, eine Teilnehmerin sagt, dass sie sich durch das Vorgehen der Polizei kriminalisiert und besonders durch die Körper-Durchsuchung erniedrigt gefühlt habe.

Die Organisator:innen der alternativen Studieneinführungstage verurteilen dieses Vorgehen der Polizei: „Es ist völlig unangemessen, die Teilnehmer:innen eines Stadtrundgangs festzusetzen und zu durchsuchen, nur weil sie in den Augen der Polizei ‚phänotypisch links‘ aussehen“. Dies sei auch nicht dadurch zu rechtfertigen, dass am Ort des Geschehens zwei Stunden später eine AfD-Kundgebung stattfinden sollte.

Das Bildungskollektiv Biko ist der Ansicht, das Vorgehen der Polizei reihe sich ein in den Umgang mit vermeintlich störenden Personengruppen in Erfurt. Punks, Alternative, aber auch schlichtweg arme oder ungewöhnlich aussehende Menschen würden im öffentlichen Raum in Erfurt regelmäßig von der Polizei, aber auch von Mitarbeiter:innen des Ordnungsamts schikaniert.

Auch die DGB-Jugend ist Teil des Bündnisses und positionierte sich in der Vergangenheit bereits klar gegen vermehrte Überwachung, Polizeipräsenz und Verdrängung der Jugend aus der Erfurter Innenstadt. „Unrechtmäßige Übergriffe durch Polizei und Ordnungsdienst sind keine Einzelfälle. Wir beobachten ein Erstarken autoritärer Ideologien und als Reaktion darauf wird widerständiges Engagement – und alles, was danach aussieht – durch die Exekutive unterdrückt. In Zeiten multipler Krisen und sich verschärfender rechter Gewalt ist das polizeiliche Vorgehen gegen Antifaschist:innen und Linke einfach nur unverständlich.“

Die Rosa-Luxemburg-Stiftung Thüringen war im Rahmen von „Nächste Ecke links“ Co-Veranstalterin von zwei Vorträgen. Polizeiliche Maßnahmen, die in Politische Bildung eingreifen, beschneiden demokratische Grundrechte. Dass diese Grundrechte Menschen aufgrund ihres Aussehens einen ganzen Tag lang abgesprochen werden, ist empörend. Das Feindbild scheinen für die Polizei an diesem Tag Linke gewesen zu sein. Wir solidarisieren uns mit den Veranstalter:innen des Stadtrundgangs und unterstützen das Bündnis hinter den Alternativen Einführungstagen in seiner Verurteilung des polizeilichen Vorgehens.

Während Oberbürgermeister Bausewein die neu angekommenen Studierenden öffentlichkeitswirksam herzlich begrüßte, arbeiten die ihm unterstellten Sicherheits- und Polizeikräfte fleißig daran, junge Menschen abzuschrecken. Mithilfe ihrer repressiven Strategie schränken sie ehrenamtliches Engagement sowie politische Meinungsbildung und -äußerung massiv ein – das Bündnis hinter den alternativen Studieneinführungstagen lässt sich jedoch nicht beirren und freut sich schon jetzt auf die Veranstaltungsreihe im nächsten Jahr.

Unterzeichner:innen:
• Bildungskollektiv Biko
• Campus Mackerfrei
• Decolonize Erfurt
• DGB-Bildungswerk Thüringen e.V.
• DGB-Jugend Erfurt
• DGB-Jugend-Hochschulgruppe Erfurt
• Grüne Jugend Erfurt
• Hochschulgruppe Kritisches Lehramt Erfurt
• Jusos Erfurt
• Rosa-Luxemburg-Stiftung Thüringen
• Rote Hilfe Ortsgruppe Erfurt
• Seebrücke Erfurt
• SJD – Die Falken Erfurt
• Vorstand des Studierendenrates der Universität Erfurt


Dekolonialer Stadtrundgang

29.10.2023, 14-16 Uhr, Treffpunkt: Kaisersaal, Futterstraße 15/16

Was ist die Südseesammlung und was sind ihre Besonderheiten im Vergleich zu anderen Ozeaniensammlungen? Gab es schon Jahrzehnte vor den rassistischen Ausschreitungen in Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen eine Hetzjagd mitten in der Erfurter Innenstadt? Im zweiten dekolonialen Stadtrundgang zu den Alternativen Studieneinführungstagen erkunden wir weitere vergessene oder verdrängte Spuren des Kolonialismus in Erfurt. Neben der fehlenden, unvollständigen oder beschönigenden Erinnerung an den Kolonialismus wollen wir uns aber auch wieder mit antikolonialen Widerstand beschäftigen.


Dekolonialer Stadtrundgang

21.10.2023, 10-12 Uhr, Treffpunkt: Ecke Augustinerstraße/Am Hügel

Was hat Erfurt mit Kolonialismus zu tun? Warum dekolonial? Welche rassistischen Stereotype transportieren bestimmte Wörter? Warum soll das Erfurter Nettelbeckufer umbenannt werden? Im ersten dekolonialen Stadtrundgang zu den Alternativen Studieneinführungstagen erkunden wir die (K)Erben des Kolonialismus in Erfurt. Spoiler: davon gibt es auch in Erfurt überraschend viele.


Dekolonialer Stadtrundgang

17.09.2023, 15-17 Uhr, Treffpunkt: Kaisersaal, Futterstraße 15/16

Was ist die Südseesammlung? Was hat der Kaisersaal mit Kolonialismus zu tun? Bei einem dekolonialen Stadtrundgang durch die Erfurter Innenstadt zu 10 Jahren Kultur flaniert wollen wir einen Blick auf Erfurts koloniales Erbe werfen und die Verknüpfung von heutigen Stätten der Kultur mit dem Kolonialismus erkunden.


Ein Grund zum Feiern?


Für Dienstag, den 5.9.2023, lädt der Erfurter OB Andreas Bausewein zur „feierlichen Einweihung“ der Gert-Schramm-Straße.

Erinnern wir uns: Im März 2023 hat der Erfurter Stadtrat mit den Stimmen von AfD, CDU und SPD beschlossen, das Nettelbeckufer nicht in Gert-Schramm-Ufer umzubenennen, obwohl gar kein Antrag auf Umbenennung vorlag. OB Bausewein verstieg sich sogar dazu, dem Versklavungsoffizier, Koloniallobbyisten und Nationalisten Joachim Nettelbeck, der aufgrund seines Durchhaltefanatismus zu einer wichtigen Propagandafigur in Joseph Goebbels totaler Kriegsführung wurde, eine „ungeheure Zivilcourgage“ zuzuschreiben. Also wird jetzt ein unbewohntes Teilstück der Karlstraße nach Gert Schramm benannt und dies als guter Kompromiss verkauft.

In der Einladung heißt es: „Mit der Benennung einer Straße nach Gert Schramm möchte die Stadt Erfurt an einen wichtigen deutschen Zeitzeugen des Nationalsozialismus und Inhaftierten des Konzentrationslagers Buchenwald erinnern. Es ist ein Zeichen des Dankes und der Würdigung seines Engagements für die schwarze deutsche/afrodeutsche Gesellschaft sowie seine intensive Aufklärungsarbeit als antirassistischer Aktivist, für welche er mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande geehrt wurde.“
Die Initiative Schwarze Menschen in Deutschland und die Initiative Decolonize Erfurt, die mit der Forderung nach Umbenennung des Nettelbeckufers in Gert-Schramm-Ufer den Prozess in Gang gesetzt haben, wurden von der Stadtverwaltung nicht eingeladen. So sieht für uns weder ein Kompromiss noch eine „Ehrung“ des Antifaschisten Gert Schramm aus!


Dekolonialer Stadtrundgang

31.08.2023, 17-19 Uhr, Treffpunkt: Klimaschule, Rathausbrücke

Die Zerstörung des Planeten und Rassismus müssen zusammen bekämpft werden, weil sie untrennbar miteinander verbunden sind. Rassistische Denksysteme und Praktiken, wie sie im Kolonialismus etabliert wurden, sorgen seit Jahrhunderten dafür, dass es vor allem Schwarze Menschen und der Globale Süden sind, die unter der Umweltzerstörung jenes Kapitalismus, von dem in erster Linie der Globale Norden profitiert, zu leiden haben. Gleichzeitig war der Beginn von Kolonialismus und Plantagenwirtschaft im 15. Jahrhundert überhaupt erst der„Startpunkt“ der Klimakrise.
Welche koloniale Spuren existieren heute noch in Erfurt? Wird Erfurts koloniales Erbe aufgearbeitet oder weiter verdrängt?

Bei unserem dekolonialen Stadtrundgang zur Klimaschule Erfurt wollen wir gemeinsam die vergessenen oder verdrängten Spuren des Kolonialismus in Erfurt erkunden und die Kontinuitäten des Kolonialismus sichtbar machen.



Gedenkveranstaltung zum Jahrestag der Erfurter Hetzjagd von 1975

10.08.2023, 18 Uhr, Angerdreieck

Am 10.08.1975 wurden algerische Arbeitsmigranten von bis zu 300 Deutschen durch die Erfurter Innenstadt gejagt und gewaltvoll angegriffen. Die rassistischen Ausschreitungen jähren sich nun zum 48. Mal.

Gemeinsam wollen wir an die Betroffenen erinnern, über die Taten und Hintergründe informieren und sie nicht in Vergessenheit geraten lassen!

Seid dabei am 10.08. auf dem Angerdreieck ab 18 Uhr!


Dekolonialer Stadtrundgang

28.07.2023, 18-20 Uhr, Treffpunkt: Kaisersaal, Futterstraße 15/16

Was ist die Südseesammlung und was sind ihre Besonderheiten im Vergleich zu anderen Ozeaniensammlungen? Gab es schon Jahrzehnte vor den rassistischen Ausschreitungen in Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen eine Hetzjagd mitten in der Erfurter Innenstadt? Im zweiten dekolonialen Stadtrundgang in diesem Jahr erkunden wir weitere vergessenen oder verdrängte Spuren des Kolonialismus in Erfurt. Neben der fehlenden, unvollständigen oder beschönigenden Erinnerung an den Kolonialismus wollen wir uns aber auch wieder mit antikolonialen Widerstand beschäftigen.
Dieser Stadtrundgang ist Zweisprachig Deutsch/Englisch.
Kommt vorbei und bringt eure Freund*innen mit! Wir freuen uns auf euch!


Dekolonialer Stadtrundgang

12.04.2023, 16-18 Uhr, Treffpunkt: Ecke Augustinerstraße / Am Hügel

Zum Tag der Provenienzforschung am 12. April starten wir wieder durch mit unseren dekolonialen Stadtrundgängen. Wir treffen uns am 12. April um 16 Uhr an der Straßenecke Augustinerstraße / Am Hügel zum dekolonialen Stadtrundgang. Zusammen erkunden wir die (K)Erben des Kolonialismus in Erfurt. Davon gibt es überraschend viele.

Kommt vorbei und bringt eure Freund*innen mit! Wir freuen uns auf euch!


Wir bleiben dabei: Das Nettelbeckufer muss umbenannt werden!


Wie zu befürchten war, hat der Erfurter Stadtrat heute mit den Stimmen von SPD, CDU und AfD beschlossen, dass das Nettelbeckufer nicht umbenannt werden soll. Der ursprüngliche AfD-Antrag, der noch im Dezember 2020 vom Stadtrat abgelehnt worden war, wird dadurch mehrheitsfähig gemacht. Wenn SPD und CDU jetzt behaupten, sie würden keine AfD-Politik betreiben, ist das scheinheilig. Nettelbeck bleibt als Namensgeber erhalten. Der Unterschied ist lediglich, dass noch ein unbewohnter Abschnitt einer anderen Straße nach Gert Schramm benannt werden soll.

Für Erfurt ist dieser Beschluss eine Schande. Nicht nur wird die AfD weiter normalisiert, es wird auch das Signal ausgesandt, dass kein ernsthaftes Interesse an einer Aufarbeitung des kolonialen Erbes besteht. Stattdessen hören wir leere Rhetorik, die zivilgesellschaftliches Engagement und antirassistische Anliegen missachtet. Für die Zukunft lässt das nichts Gutes erwarten: Wenn die Landeshauptstadt es nicht schafft, einen Versklavungsoffizier, Koloniallobbyisten und Nationalisten zu entehren, wird sie auch an den viel größeren Veränderungsprozessen scheitern, die in den nächsten Jahren auf sie zukommen.

Wir werden uns weiterhin dafür einsetzen, dass das Nettelbeckufer umbenannt wird und Erfurt eine lebenswerte Stadt für ALLE seine Bürger:innen ist, und möchten emanzipatorische Prozesse insbesondere von marginalisierten Gruppen unterstützen. Wer wie SPD, CDU und AfD glaubt, eine gesellschaftliche Debatte könne per Stadtratsbeschluss beendet werden, leidet unter Realitätsverlust. Wir leben in einer postmigrantischen Gesellschaft, in der die Aufarbeitung von Deutschlands kolonialem Erbe in vollem Gang ist. Gemeinsam mit dem bundesweiten Decolonize-Netzwerk und der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland werden wir auch in Zukunft für eine progressive Erinnerungskultur eintreten.

Wir danken allen Erfurter:innen und auswärtigen Menschen, die uns bis zu diesem Punkt begleitet haben, für die Unterstützung – und freuen uns auf die weitere Zusammenarbeit! Wir schätzen uns glücklich, dass unsere Arbeit zu drei Umbenennungen in anderen Städten – Berlin, Dortmund und Eberswalde – beigetragen hat. Weitere werden folgen. Das Gute an der Demokratie ist, dass falsche Entscheidungen auch wieder rückgängig gemacht werden können, wie nicht zuletzt die Wahl eines Karnevalsvereinsvorsitzenden zum Ministerpräsidenten gezeigt hat.